»Wir sind da«, erklärte Liandrin lächelnd. »Ich habe euch nun endlich an euren Bestimmungsort gebracht.«
40
Damane
Egwene stieg vom Pferd, als sich das Wegetor öffnete, und als Liandrin ihnen bedeutete, durchzugehen, da führte sie die zerzauste Stute vorsichtig hinaus. Trotzdem stolperten sowohl sie als auch Bela über das von dem sich öffnenden Tor niedergedrückte Gestrüpp, als sie sich mit einem Mal viel langsamer bewegten. Dichtes Gestrüpp hatte das Wegetor umgeben und verborgen. Nur ein paar Bäume standen in der Nähe, und das Laub, das im Morgenwind flatterte, war ein wenig bunter als das in Tar Valon.
Sie beobachtete ihre Freundinnen beim Herauskommen so konzentriert, daß sie mehr als eine Minute dort gestanden hatte, bevor ihr bewußt wurde, daß sich noch andere hier befanden, lediglich außer Sicht an der Rückseite des Tores. Als sie die anderen schließlich bemerkt hatte, blickte sie nervös hinüber: Es war die eigenartigste Ansammlung von Menschen, die sie je gesehen hatte, und außerdem hatte sie schon zu viele Gerüchte über den Krieg auf der Toman-Halbinsel gehört.
Es waren mindestens fünfzig schwer gerüstete Männer mit Schuppenpanzern und matten schwarzen Helmen in der Form von Insektenköpfen, die da in ihren Sätteln saßen oder neben ihren Pferden standen und sie und die anderen gerade auftauchenden Frauen und das Wegetor anstarrten. Sie unterhielten sich offensichtlich über das, was sie sahen. Der einzige, der seinen vergoldeten und bemalten Helm nicht auf dem Kopf, sondern an der Hüfte trug, ein hochgewachsener, dunkelhäutiger Bursche mit einer Hakennase, staunte unverhohlen.
Neben den Soldaten standen auch Frauen. Zwei davon trugen einfache dunkelgraue Kleider und breite silberne Halsbänder. Sie musterten die Neuankömmlinge besonders intensiv. Direkt hinter jeder stand eine weitere Frau, so, als wolle sie ihr etwas ins Ohr flüstern. Zwei weitere Frauen, die ein kleines Stückchen weiter weg standen, trugen weite, geschlitzte, nicht einmal knöchellange Röcke und auf dem Busen und am Rock jeweils ein Abzeichen mit einem gespaltenen Blitz. Am eigenartigsten jedoch wirkte eine letzte Frau, die auf einer von acht muskulösen Männern mit nackten Oberkörpern und weiten schwarzen Hosen getragenen Sänfte ruhte. Ihr Kopf war auf beiden Seiten kahlrasiert, so daß nur ein einziger Strang schwarzen Haares in der Mitte auf ihre Schultern fiel. Ihre lange, beigefarbene Robe mit Blumen und Vögeln auf blauen Ovalen war so drapiert, daß ihr schimmernd weißer Rock gut sichtbar war. Ihre Fingernägel waren alle enorm lang und die beiden ersten an jeder Hand hatte sie blau gefärbt.
»Liandrin Sedai«, fragte Egwene nervös, »wißt Ihr, wer diese Leute sind?« Ihre Freundinnen hielten die Zügel so verkrampft, als dächten sie daran, auf die Pferde zu springen und wegzugaloppieren. Doch Liandrin steckte nur das Avendesora-Blatt an seinen Platz zurück und trat selbstbewußt vor, während sich das Wegetor langsam schloß. »Hohe Dame Suroth?« sagte Liandrin. Es klang wie ein Mittelding zwischen einer Frage und einer Feststellung.
Die Frau auf der Sänfte neigte den Kopf ein wenig. »Ihr seid Liandrin.« Ihre Aussprache war undeutlich, und Egwene brauchte einen Moment, bis sie die Worte verstand. »Aes Sedai«, fügte Suroth mit spöttisch verzogenem Mund hinzu, und unter den Soldaten machte sich Unruhe breit. »Wir müssen diesen Ort schnell wieder verlassen, Liandrin. Es sind Patrouillen unterwegs, und es wäre nicht gut, wenn wir von ihnen entdeckt würden. Euch würde die liebevolle Behandlung der Wahrheitsfinder genausowenig schmecken wie mir. Ich will wieder in Falme sein, bevor Turak merkt, daß ich weg bin.«
»Wovon sprecht Ihr da?« wollte Nynaeve wissen. »Wovon redet sie, Liandrin?«
Liandrin legte eine Hand auf Nynaeves und eine auf Egwenes Schulter. »Das sind die beiden, von denen Euch berichtet wurde. Und hier ist noch eine.« Sie nickte in Richtung Elayne. »Das ist die Tochter-Erbin von Andor.«
Die beiden Frauen mit den Blitzen am Kleid kamen auf die Gesellschaft vor dem Wegetor zu. Egwene bemerkte, daß sie Leinen aus irgendeinem silbrigen Metall in den Händen hielten. Der barhäuptige Soldat kam auch mit. Seine Hand näherte sich aber nicht dem Schwertgriff, der über seine Schulter hinausragte, und er lächelte dabei unverbindlich. Trotzdem beobachtete Egwene ihn mißtrauisch. Liandrin gab kein Anzeichen der Erregung von sich, sonst wäre Egwene in diesem Augenblick ohne Zögern auf Belas Rücken gesprungen.
»Liandrin Sedai«, sagte sie eindringlich, »wer sind diese Leute? Sind sie auch hier, um Rand und den anderen zu helfen?«
Der Mann mit der Hakennase packte plötzlich Min und Elayne am Hals, und im nächsten Augenblick überstürzten sich die Ereignisse. Der Mann schrie auf und fluchte; eine oder vielleicht auch mehrere Frauen kreischten — Egwene war sich nicht sicher. Plötzlich wurde ein Sturmwind aus der Morgenbrise, und er peitschte Liandrins wütenden Aufschrei in einer Wolke aus Dreck und Laub hinweg, und die Bäume neigten sich ächzend. Pferde bäumten sich auf und wieherten schrill. Und eine von den Frauen streckte die Hand aus und befestigte etwas an Egwenes Hals.
Mit einem Umhang, der wie ein Segel flatterte, stemmte sich Egwene gegen den Wind und riß an etwas, das sich wie ein Kragen aus glattem Metall anfühlte. Es gab nicht nach. Ihre Finger zitterten. Es war wie aus einem Stück, obwohl sie wußte, daß es doch irgendwo einen Verschluß aufweisen mußte. Die silbrige Leine der Frau hing nun Egwene über die Schulter. Ihr anderes Ende war an einem schimmernden Armband am linken Handgelenk der Frau befestigt. Egwene ballte eine Faust so fest sie konnte und schlug sie der Frau aufs Auge — und dann taumelte sie selbst und fiel auf die Knie. Ihr Kopf schmerzte wie von einem Schlag, so, als sei sie von einem kräftigen Mann ins Gesicht geschlagen worden.
Als sie wieder klar sehen konnte, war der Wind eingeschlafen. Einige Pferde wanderten ziellos herum, darunter auch Bela und Elaynes Stute, und ein paar der Soldaten fluchten und standen mühsam wieder auf. Liandrin wischte sich gelassen Staub und Herbstlaub vom Kleid. Min kniete am Boden, auf die Hände gestützt, und versuchte benommen, sich hochzurappeln. Der Mann mit der Hakennase stand über ihr. Von seiner Hand tropfte Blut. Mins Messer lag ein Stück außerhalb ihrer Reichweite. An der einen Seite war die Klinge blutverschmiert. Nynaeve und Elayne waren nirgendwo zu sehen, und auch Nynaeves Stute war verschwunden, genauso wie einige Soldaten und zwei der Frauen. Die anderen beiden standen noch da, und Egwene konnte nun erkennen, daß auch sie durch eine silberne Leine miteinander verbunden waren, so wie sie mit der Frau, die sich über sie beugte.
Die Frau kauerte nun neben Egwene nieder und rieb sich die Wange. Um ihr linkes Auge herum verfärbte sich bereits die Haut blauschwarz. Sie hatte langes, dunkles Haar und große braune Augen, war hübsch und vielleicht zehn Jahre älter als Nynaeve. »Deine erste Lektion«, sagte sie nachdrücklich. In ihrer Stimme lag keine Feindseligkeit. Sie klang sogar eher freundlich. »Diesmal werde ich dich nicht weiter bestrafen, da ich bei einer gerade gefangenen Damane vorsichtiger hätte sein müssen. Wisse sovieclass="underline" Du bist eine Damane, eine Gefesselte, und ich bin eine Sul'dam, eine Fesselträgerin. Wenn eine Damane und ihre Sul'dam durch die Fessel vereint sind, dann fühlt die Damane jeden Schmerz, den die Sul'dam empfindet, doppelt so stark. Das geht bis zum Tod. Also wirst du daran denken müssen, daß du niemals eine Sul'dam in irgendeiner Form schlagen darfst und daß du deine Sul'dam noch besser beschützen mußt als dich selbst. Ich heiße Renna. Wie wirst du genannt?«