»Liandrin« — Egwene würde nie wieder die Ehrenbezeichnung für sie benutzen — »und die Hohe Dame sprachen von einem Herrn, dem sie beide dienten.« In ihr keimte die Erinnerung an einen Mann mit kaum verheilten Brandwunden im Gesicht auf, dessen Augen und Mund manchmal zu Feueröfen wurden, doch selbst wenn er nur eine Traumgestalt war, wollte sie doch nicht an ihn denken, so schrecklich war er. »Wer ist das? Was will er von mir und — und Min?« Sie wußte, es war überflüssig, Nynaeves Namen zu verschweigen. Keiner von diesen Leuten würde sie vergessen, nur weil ihr Name nicht erwähnt wurde. Besonders diese blauäugige Sul'dam, die ihre unbefestigte Leine streichelte, würde sich an sie erinnern. Aber es war für sie im Moment die einzige Möglichkeit, ihren Kampfgeist unter Beweis zu stellen.
»Die Angelegenheiten derer von adligem Blut«, sagte Renna, »gehen mich nichts an, und dich schon gar nicht. Die Hohe Dame wird mir sagen, was ich wissen soll, und ich werde dir wiederum sagen, was du wissen mußt. Alles andere, was du hörst oder siehst, muß für dich sein, als habe es nie stattgefunden, als sei es ungesagt geblieben. So ist man sicherer, ganz besonders als Damane. Damane sind zu wertvoll, um sie so einfach zu töten, aber du könntest nicht nur streng bestraft werden, sondern möglicherweise auch deine Zunge oder deine Hände einbüßen. Damane können auch ohne diese Dinge arbeiten.«
Egwene schauderte, obwohl es nicht sehr kalt war. Sie zog ihren Umhang höher hinauf und berührte dabei die Leine. Sie zog ein wenig daran. »Das ist ein furchtbares Ding. Wie könnt Ihr jemandem so etwas antun? Welcher kranke Geist hat das erfunden?«
Die blauäugige Sul'dam mit der losen Leine grollte: »Die könnte bereits sehr wohl ohne Zunge auskommen, Renna.«
Renna lächelte nur geduldig. »Warum ist das furchtbar? Wie könnten wir jemanden in Freiheit herumlaufen lassen, der fertigbringt, was eine Damane alles kann? Manchmal werden auch Männer geboren, die eine Marath'Damane wären, falls sie als Frauen geboren wären — ich habe gehört, daß das hier auch der Fall ist —, und sie müssen natürlich getötet werden. Aber die Frauen verfallen nicht dem Wahnsinn. Es ist besser für sie, zur Damane gemacht zu werden, als ständig Schwierigkeiten zu bereiten, wenn sie in Machtkämpfe verwickelt werden. Und was den Geist betrifft, der sich zuerst die Adam einfallen ließ, so war das der Geist einer Frau, die sich Aes Sedai nannte.«
Egwene wußte, daß ihr Gesicht von Ungläubigkeit gekennzeichnet sein mußte, denn Renna lachte nun offen. »Als Luthair Paedrag Mondwin, der Sohn Falkenflügels, zum ersten Mal dem Heer der Nacht gegenüberstand, fand er unter seinen Gegnern viele, die sich Aes Sedai nannten. Sie stritten untereinander um die Macht und benützten die Eine Macht auf dem Schlachtfeld. Eine davon, eine Frau namens Deain, die glaubte, sie sei besser dran, wenn sie dem Kaiser diente — damals war er natürlich noch nicht Kaiser —, kam, da er in seinem Heer keine Aes Sedai hatte, mit einer von ihr angefertigten Vorrichtung zu ihm, dem ersten Adam, den sie am Hals einer ihrer Schwestern befestigt hatte. Obwohl diese Frau Luthair nicht dienen wollte, zwang der A'dam sie doch dazu. Also fertigte Deain weitere A'dam an, die ersten Sul'dam wurden auserwählt, und gefangene Frauen, die sich Aes Sedai nannten, erfuhren, daß sie in Wirklichkeit nur MarathDamane waren, Jene, die Gekoppelt Werden Mußten. Man erzählt, als Deain selbst an die Leine gelegt wurde, hätten ihre Schreie die Mitternachtstürme erschüttert. Aber natürlich war auch sie eine Marath'Damane, und denen kann man nicht gestatten, frei herumzulaufen. Vielleicht wirst du einmal zu jenen gehören, die die Fähigkeit besitzen, A'dam anzufertigen. Sollte das der Fall sein, wird man dich verwöhnen, da kannst du sicher sein.«
Egwene blickte sehnsüchtig in das Land hinaus, durch das sie ritten. Niedrige Hügel erhoben sich um sie, und die dünne Bewaldung war jetzt vereinzelten Sträuchern gewichen, doch sie war sicher, sich darin verstecken zu können. »Erwartet man von mir, daß ich mich darauf freue, wie ein Schoßhund verwöhnt zu werden?« fragte sie bitter. »Ein Leben lang an Frauen und Männer gefesselt sein, die mich für eine Art von Haustier halten?«
»Keine Männer«, schmunzelte Renna. »Alle Sul'dam sind Frauen. Falls ein Mann ein solches Armband anlegt, könnte es genausogut die meiste Zeit über an einem Haken an der Wand hängen.«
»Und manchmal«, fügte die blauäugige Sul'dam gefühllos hinzu, »würdet ihr beide gemeinsam schreiend sterben.« Die Frau hatte harte Züge und dünne Lippen, und Egwene wurde klar, daß sie ihren zornigen Gesichtsausdruck wohl ständig trug. »Von Zeit zu Zeit spielt die Kaiserin mit Lords, indem sie sie mit einer Damane zusammenkoppelt. Die Lords kommen ins Schwitzen, und der Hof der Neun Monde wird gut unterhalten. Bis zum Ende weiß der betreffende Lord nicht, ob er es überleben wird oder nicht, und die Damane weiß es natürlich genausowenig.« Ihr Lachen klang boshaft.
»Nur die Kaiserin kann es sich erlauben, auf diese Art und Weise Damane zu verschwenden, Alwhin«, fauchte Renna, »und ich werde diese Damane nicht schulen, nur damit sie hinterher so weggeworfen wird.«
»Ich habe bisher nichts von einer Schulung bemerkt, Renna. Nur einen Haufen Geschwätz, als ob Ihr und diese Damane Schulfreundinnen wärt.«
»Vielleicht wird es Zeit festzustellen, was sie alles kann«, sagte Renna, wobei sie Egwene musterte. »Beherrschst du die Macht schon gut genug, um über diese Entfernung hinweg zu arbeiten?« Sie deutete auf eine hohe Eiche, die einsam auf einer Hügelspitze stand.
Egwene betrachtete den Baum stirnrunzelnd. Er stand vielleicht eine halbe Meile von dem Weg entfernt, den die Soldaten mit Suroths Sänfte eingeschlagen hatten. Sie hatte noch nie etwas zu bewirken versucht, was über ihre Armlänge hinausgereicht hätte. Aber sie hielt es nicht für unmöglich. »Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Versuch es«, meinte Renna. »Fühle den Baum. Fühle den Saft im Baum. Ich will, daß du ihn erhitzt, und zwar derart stark, daß jeder Tropfen Saft in jedem Ast innerhalb eines Augenblicks verdampft. Tu es!«
Egwene war entsetzt über sich selbst, denn sie fühlte den Drang, Rennas Befehl auszuführen. Sie hatte zwei Tage lang nicht mehr die Macht gelenkt, nicht einmal Saidar berührt. Der Wunsch, sich mit der Einen Macht vollzusaugen, ließ sie beben. »Ich« — nach einem halben Herzschlag hatte sie die Worte »werde das nicht« beiseitegeschoben; die unsichtbaren Striemen brannten noch zu sehr, um eine solche Idiotie zuzulassen — »kann nicht«, beendete sie ihren Satz deshalb. »Er ist zu weit weg, und ich habe so etwas noch nie gemacht.«
Eine der Sul'dam lachte ungläubig, und Alwhin sagte: »Sie hat es noch nicht einmal versucht.«
Renna schüttelte beinahe traurig den Kopf. »Wenn eine lange genug Sul'dam gewesen ist, kann sie vieles an ihrer Damane selbst ohne das Armband feststellen, aber mit dem Armband kann sie unfehlbar feststellen, ob die Damane versucht hat, die Macht zu benützen. Du darfst mich niemals anlügen, oder auch eine andere Sul'dam; noch nicht einmal ein bißchen.«
Plötzlich waren die unsichtbaren Hiebe wieder da und trafen sie am ganzen Körper. Schreiend schlug sie nach Renna, aber die Sul'dam wischte problemlos ihre Faust zur Seite, während Egwene das Gefühl hatte, Renna hätte ihr mit einem Stock über den Arm geschlagen. Sie grub die Fersen in Belas Flanken, aber die Sul'dam hatte die Leine so fest in der Hand, daß es sie beinahe aus dem Sattel gezogen hätte. Verzweifelt suchte sie nach Saidar, um Renna so weh zu tun, daß sie aufhörte. Sie wollte ihr genauso weh tun, wie Renna ihr. Die Sul'dam schüttelte unbeeindruckt den Kopf, und Egwene heulte auf, als ihre Haut plötzlich verbrüht wurde. Das Brennen milderte sich erst, als sie Saidar ganz fahren ließ, doch die unsichtbaren Schläge hörten nicht auf und wurden auch nicht schwächer. Sie versuchte, Renna zuzurufen, daß sie sich bemühen werde, wenn sie nur aufhörte, aber sie brachte nur ein Gurgeln heraus und wand sich vor Schmerzen.