Sie hatten etwas über die Invasoren in diesem Dorf, das sich Atuansmühle nannte, in Erfahrung gebracht.
Allerdings führten die meisten dieser Informationen nur zu immer neuen Fragen. Die Leute hatten zuerst willig geplaudert, aber dann doch wieder den Mund zugemacht und sich zitternd umgeschaut. Alle hatten furchtbare Angst, die Seanchan mit ihren Monstern und ihren Damane könnten zurückkehren. Daß Frauen, die eigentlich Aes Sedai sein sollten, statt dessen wie Tiere an die Leine gelegt wurden, ängstigte die Dorfbewohner mehr als die seltsamen Kreaturen, die den Seanchan zur Verfügung standen und die die Menschen in Atuansmühle nur flüsternd beschreiben konnten, als seien sie ihren Alpträumen entsprungen. Und was am schlimmsten war: Die Exempel, die die Seanchan vor ihrer Abreise noch statuiert hatten, waren den Menschen zutiefst in die Knochen gefahren. Sie hatten ihre Toten anschließend begraben, doch sie wagten nicht, den verbrannten Fleck auf dem Dorfplatz zu säubern. Keiner von ihnen erzählte, was vorgefallen war, doch Hurin hatte sich übergeben müssen, als sie das Dorf betraten. Er weigerte sich, sich dem geschwärzten Fleck am Boden zu nähern.
Atuansmühle war zur Hälfte verlassen, als sie dort eintrafen. Einige waren nach Falme geflohen, weil sie hofften, die Seanchan würden in einer so sicher beherrschten Stadt nicht ganz so hart regieren. Andere waren nach Osten gegangen. Weitere erzählten, daß auch sie daran dächten. Auf der Ebene von Almoth fanden Kampfhandlungen statt. Man behauptete, die Taraboner kämpften gegen die Domani, aber wenigstens kamen die Fackeln, mit denen die Häuser entzündet wurden, aus den Händen von Menschen. Selbst ein Krieg war leichter zu ertragen als das, was die Seanchan angerichtet hatten und noch anrichten könnten.
»Warum hat Fain das Horn nur hierher gebracht?« murmelte Perrin. Jeder von ihnen hatte sich das von Zeit zu Zeit gefragt, aber keiner hatte die Frage beantwortet. »Hier herrscht Krieg, und dann sind diese Seanchan da mit ihren Monstern. Warum also gerade hierher?«
Ingtar drehte sich im Sattel um und sah sie an. Sein Gesicht wirkte beinahe so hager wie das Mats. »Es gibt immer Männer, die in den Wirren des Krieges ihren eigenen Vorteil sehen. Fain ist einer davon. Zweifellos will er das Horn erneut stehlen, und wenn es diesmal vom Dunklen König selbst ist, und es dann zum eigenen Vorteil nützen.«
»Die Pläne des Vaters der Lügen sind niemals einfach und durchschaubar«, sagte Verin. »Es kann sein, daß er Fain das Horn hierher bringen lassen will, und der Grund ist eben nur im Shayol Ghul bekannt.«
»Monster«, schnaubte Mat. Seine Wangen waren eingefallen; die Augen saßen in tiefen Höhlen. Daß er sich so gesund anhörte, machte die Sache nur noch schlimmer. »Sie haben ein paar Trollocs gesehen oder einen Blassen, wenn ihr mich fragt. Und warum auch nicht? Wenn Aes Sedai für die Seanchan kämpfen, warum dann nicht auch Blasse und Trollocs?« Er bemerkte, wie ihn Verin anblickte, und zuckte ein wenig zusammen. »Na ja, es sind wirklich welche, an der Leine oder nicht. Sie können die Macht benützen, und das macht sie zu Aes Sedai.« Er sah Rand an und lachte heiser. »Das macht auch dich zu einem Aes Sedai. Licht, hilf uns allen!«
Masema kam von vorn durch Matsch und Regen angaloppiert. »Vor uns liegt ein weiteres Dorf, Lord Ingtar«, sagte er, als er sein Pferd neben Ingtar zum Stehen brachte. Sein Blick streifte Rand kaum, wurde aber trotzdem sichtlich härter. Danach sah er ihn nicht mehr an. »Es ist verlassen, Lord Ingtar. Keine Dorfbewohner, keine Seanchan, überhaupt niemand. Die Häuser wirken aber alle unbeschädigt, außer, was zwei oder drei betrifft, die... na ja, die einfach nicht mehr da sind, Herr.«
Ingtar hob die Hand und befahl einen schnellen Trab.
Das Dorf, das Masema gefunden hatte, lag am Abhang eines Hügels. Obenauf lag ein gepflasterter Dorfplatz, in dessen Innerem sich eine ringförmige Mauer befand. Die Häuser waren aus Stein gebaut, hatten flache Dächer und meist nur ein Stockwerk. Drei davon, die wohl größer gewesen und an einer Seite des Platzes errichtet worden waren, lagen nun in Trümmern. Über den Platz verstreut lagen rußgeschwärzte Mauerbruchstücke und Dachsparren. Ein paar Fensterläden knallten auf und zu, wenn der Wind böig wurde. Ingtar stieg vor dem einzigen großen Gebäude ab, das noch stand. Das knarrende Schild über dem Eingang zeigte eine Frau, die mit Sternen jonglierte. Es stand aber kein Name drauf. Der Regen spritzte in zwei dünnen Fäden von den Ecken des Schilds herunter. Verin eilte hinein, während Ingtar sagte: »Uno, durchsuche alle Häuser. Wenn noch jemand da ist, kann er uns vielleicht sagen, was hier passiert ist, und wir erfahren etwas mehr über die Seanchan. Und wenn du etwas zum Essen findest, bringe es auch mit. Und Decken.« Uno nickte und ließ seine Männer abzählen. Ingtar wandte sich Hurin zu. »Was riechst du? Ist Fain hier durchgekommen?«
Hurin rieb sich die Nase und schüttelte den Kopf. »Er nicht, Lord Ingtar, und auch keine Trollocs. Aber wer auch immer das angerichtet hat, hat einen schlimmen Gestank hinterlassen.« Er deutete auf die Trümmer der Häuser. »Es war Mord, Herr. Dort drinnen befanden sich Menschen.«
»Seanchan«, grollte Ingtar. »Gehen wir rein. Ragan, suche uns einen Stall für die Pferde.«
Verin hatte bereits in den beiden großen Kaminen, die sich an den Kopfseiten des Schankraumes befanden, Feuer gemacht, und nun wärmte sie sich die Hände. Ihren durchnäßten Umhang hatte sie auf einem der Tische ausgebreitet, die auf dem gefliesten Boden standen. Sie hatte auch ein paar Kerzen entdeckt, die auf einem der Tische leuchteten. Sie hatte sie einfach in ihr eigenes Wachs gesteckt, damit sie stehenblieben. Leere und Stille —nur durch ein gelegentliches Donnern von draußen her unterbrochen — und dazu die flackernden Schatten: das alles ließ den Raum wie eine Höhle wirken. Rand warf seinen genauso nassen Umhang und den Mantel ebenfalls auf einen Tisch und gesellte sich zu ihr. Nur Loial fand es wichtiger, nach seinen Büchern zu sehen, als sich aufzuwärmen.
»Auf diese Art finden wir das Horn von Valere nie«, sagte Ingtar. »Drei Tage, seit wir... seit wir hier angekommen sind« — er schauderte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar; Rand fragte sich, was der Schienarer wohl in seinen anderen Leben erlebt hatte — »und noch mindestens zwei weitere bis Falme, und wir haben nicht die geringste Spur von Fain oder den Schattenfreunden entdeckt. Es gibt an der Küste unzählige Dörfer. Er könnte in jedem davon stecken oder sich mittlerweile irgendwohin eingeschifft haben. Falls er überhaupt jemals hier war.«
»Er war hier«, sagte Verin ruhig, »und er ist nach Falme gegangen.«
»Und da ist er immer noch«, fügte Rand hinzu. Er wartet auf mich. Bitte, Licht, laß ihn immer noch warten. »Hurin hat nach wie vor keine Spur von ihm gefunden«, sagte Ingtar. Der Schnüffler zuckte die Achseln schuldbewußt, als habe es an ihm gelegen. »Warum sollte er ausgerechnet nach Falme gehen? Wenn man diesen Dorfbewohnern Glauben schenkt, befindet sich Falme in der Hand der Seanchan. Ich würde meinen besten Jagdhund opfern, wenn ich erführe, wer sie sind und woher sie kamen.«
»Wer sie sind, ist für uns nicht wichtig«, sagte Verin, die am Boden kniete, ihre Satteltaschen geöffnet hatte und nun trockene Kleidung daraus hervorholte. »Wenigstens haben wir jetzt Zimmer, wo wir uns umziehen können, obwohl uns das nicht viel hilft, wenn sich das Wetter nicht ändert. Ingtar, es könnte sehr wohl stimmen, was uns die Dorfbewohner sagten, daß sie nämlich die Nachkommen des Heeres von Artur Falkenflügel sind, die zurückkehrten. Wichtig ist nur, daß Padan Fain in Falme ist. Die Inschrift im Kerker von Fal Dara... «