»... hat Fain nicht erwähnt. Vergebt mir, Aes Sedai, aber das kann genausogut eine Finte gewesen sein wie eine düstere Prophezeiung. Ich kann nicht glauben, daß selbst Trollocs so dumm sind, uns alles, was sie tun werden, genau aufzuschreiben, noch bevor sie es getan haben.«
Sie drehte sich, um zu ihm hochblicken zu können. »Und was hast du vor, wenn du meinem Rat nicht folgen willst?«
»Ich will das Horn von Valere finden«, sagte Ingtar mit fester Stimme. »Vergib mir, aber ich muß meinen fünf Sinnen trauen und nicht ein paar Worten, die von Trollocs hingeschmiert wurden... «
»Eher von einem Myrddraal«, murmelte Verin, aber er ließ sich nicht unterbrechen.
»... oder von einem Schattenfreund, der sich selbst zu verraten schien. Ich werde weiter suchen, bis Hurin eine Spur findet oder wir Fain persönlich treffen. Ich muß das Horn haben, Verin Sedai. Ich muß!«
»Das ist nicht richtig«, sagte Hurin leise. »Nicht: Ich muß. Was geschieht, geschieht.« Niemand achtete auf ihn.
»Wir alle müssen das«, murmelte Verin und spähte dabei in ihre Satteltaschen. »Aber es gibt vielleicht noch wichtigere Dinge als das.«
Sie sagte nicht mehr, doch Rand verzog das Gesicht. Er wäre ihr und ihren Sticheleien und Andeutungen so gern entkommen. Ich bin nicht der Wiedergeborene Drache. Licht, könnte ich nur sämtlichen Aes Sedai endgültig entkommen! »Ingtar, ich denke, ich werde nach Falme weiterreiten. Fain ist dort, da bin ich sicher, und wenn ich nicht bald komme, dann wird er — er wird Emondsfeld etwas antun.« Das hatte er zuvor noch nie erwähnt.
Sie sahen ihn alle an. Mat und Perrin hatten die Stirn besorgt gerunzelt und überlegten angestrengt. Verin wirkte, als habe sie gerade ein neues Teil eines Puzzles entdeckt. Loial blickte erstaunt drein, und Hurin schien verwirrt. Ingtars Miene zeigte deutlich, daß er ihm nicht glaubte.
»Warum sollte er wohl?« fragte der Schienarer.
»Ich weiß nicht«, log Rand, »aber das war ein Teil seiner Botschaft, die mir Barthanes übermittelte.«
»Und hat Barthanes gesagt, daß Fain nach Falme geht?« wollte Ingtar wissen. »Nein. Es hätte ohnehin keine Rolle gespielt.« Er lachte bitter. »Schattenfreunde lügen mit jedem Atemzug.«
»Rand«, sagte Mat, »wenn ich wüßte, wie ich Fain davon abhalten könnte, Emondsfeld zu schaden, würde ich es tun. Wenn ich ganz sicher wäre, daß er das vorhat. Aber ich brauche diesen Dolch, Rand, und mit Hurins Hilfe haben wir die besten Möglichkeiten, ihn zu finden.«
»Ich gehe auf jeden Fall mit dir, Rand«, sagte Loial. Er hatte seine Bücher durchgesehen und sich vergewissert, daß keine Feuchtigkeit eingedrungen war, und nun zog er seinen nassen Mantel aus. »Aber ich weiß nicht, ob ein paar Tage mehr oder weniger viel ausmachen. Versuche doch, ein bißchen weniger voreilig zu handeln.«
»Mir ist es völlig egal, ob wir jetzt oder später oder niemals nach Falme reiten«, sagte Perrin achselzuckend, »aber wenn Fain wirklich Emondsfeld bedroht... na ja, Mat hat recht. Hurin ist unsere größte Chance, ihn zu finden.«
»Ich kann ihn aufspüren, Rand«, warf Hurin ein. »Laßt mich einmal seine Spur riechen, und ich bringe euch geradewegs zu ihm. Niemals hat jemand eine so typische Spur hinterlassen wie er.«
»Du mußt deine eigene Wahl treffen, Rand«, sagte Verin zurückhaltend. »Aber denk daran, daß Falme eine Stadt in der Hand von Invasoren ist, über die wir immer noch fast nichts wissen. Wenn du allein nach Falme gehst, wirst du vielleicht gefangengenommen oder noch Schlimmeres, und das hilft dann niemandem. Ich bin aber sicher, du wirst die richtige Wahl treffen.«
»Ta'veren«, grollte Loial.
Rand hob abwehrend beide Hände.
Uno kam vom Dorfplatz herein und schüttelte das Regenwasser aus seinem Umhang. »Keine einzige flammende Seele zu finden, Ingtar. Auf mich wirkt das, als seien sie alle gleichzeitig weggerannt. Das Vieh fehlt ebenfalls, und es ist auch kein verdammter Karren oder Wagen mehr da. Die Hälfte der Häuser ist total ausgeräumt und leer. Ich wette meinen nächsten Monatslohn darauf, daß man ihnen folgen kann, wenn man den verfluchten Möbelstücken folgt, die sie in den Straßengraben geworfen haben, weil sie verdammt noch mal merkten, daß sie damit nicht vorwärtskamen.«
»Wie steht es denn mit Kleidungsstücken?« fragte Ingtar.
Uno blinzelte überrascht mit seinem einen Auge. »Sie haben nur ein paar einzelne Stücke dagelassen. Vor allem, was sie nicht für wert hielten, mitgenommen zu werden.«
»Das muß ausreichen. Hurin, ich will, daß du dich zusammen mit ein paar anderen Männern als Einheimische verkleidest; so gut wie möglich, damit ihr nicht auffallt. Dann reitet ihr in weiten Schleifen nach Norden und nach Süden los, bis ihr die Spur kreuzt.« Weitere Soldaten traten ein und versammelten sich um Ingtar und Hurin, um zuzuhören.
Rand legte die Hände auf den Sims über dem Kamin und starrte in die Flammen. Sie erinnerten ihn an Ba'alzamons Augen. »Es ist nicht mehr viel Zeit«, sagte er. »Ich fühle, wie mich... etwas... nach Falme zieht, und es bleibt nicht mehr viel Zeit.« Er bemerkte, daß Verin ihn beobachtete, und fügte heiser hinzu: »Nicht das, was du meinst. Ich muß Fain finden. Es hat nichts mit... dem anderen zu tun.«
Verin nickte. »Das Rad webt, wie es will, und wir werden alle in das Muster eingewoben. Fain ist bereits Wochen, vielleicht sogar Monate vor uns hier angekommen. Ein paar Tage mehr werden wohl kaum einen Unterschied machen, was auch geschehen könnte.«
»Ich werde eine Runde schlafen«, murmelte er und hob seine Satteltaschen auf. »Sie können ja wohl nicht sämtliche Betten mitgeschleppt haben.«
Oben fand er Betten, aber nur in wenigen lagen noch die Matratzen, und die waren in einem Zustand, daß er sich überlegte, doch lieber auf dem Fußboden zu schlafen. Schließlich entschied er sich aber doch für ein Bett, bei dem die Matratze lediglich in der Mitte durchhing. Im Zimmer befand sich außer einem Holzstuhl und einem Tisch mit einem wackligen Bein nichts weiter.
Er zog die nassen Sachen aus und ein trockenes Hemd und trockene Hosen an, bevor er sich hinlegte. Es gab keine Laken und Decken hier. Sein Schwert lehnte er an das Kopfteil des Bettes. Schmunzelnd dachte er daran, daß die einzige trockene Decke, die er benützen konnte, die Flagge des Drachen war. Er ließ sie aber sicher verpackt in der Satteltasche stecken.
Der Regen trommelte auf das Dach, und der Donner grollte. Von Zeit zu Zeit erhellte ein Blitz die Fenster. Vor Kälte zitternd wälzte er sich auf der Matratze hin und her, versuchte, eine bequemere Stellung zu finden, und fragte sich, ob er nicht doch lieber die Flagge zum Zudecken benützen sollte. Vor allem aber überlegte er, ob er wirklich nach Falme reiten sollte.
Er wälzte sich wieder herum, und da stand Ba'alzamon mit der reinweißen Stoffbahn des Drachenbanners in der Hand neben dem Stuhl. Dort erschien ihm das Zimmer dunkler, als stünde Ba'alzamon am Rand einer Wolke öligschwarzen Qualms. Beinahe verheilte Brandnarben überzogen sein Gesicht, und während Rand ihn beobachtete, verschwanden einen Augenblick lang seine Augen. Sie wurden durch endlose Feuerhöhlen ersetzt. Rands Satteltaschen lagen am Fußende des Bettes, die Schnallen geöffnet und die Laschen aufgeklappt, wo das Banner verborgen gewesen war.
»Der Zeitpunkt nähert sich, Lews Therin. Tausend Fäden spannen sich, und bald bist du gebunden und dazu verurteilt, einen Weg zu gehen, den du nicht ändern kannst. Wahnsinn. Tod. Wirst du noch einmal, bevor du stirbst, alles töten, was du liebst?«
Rand blickte zur Tür, aber dann setzte er sich lediglich im Bett auf. Was würde es schon bringen, vor dem Dunklen König wegzulaufen? Seine Kehle war rauh wie Sandpapier. »Ich bin nicht der Drache, Vater der Lügen!« sagte er heiser.
Die Dunkelheit hinter Ba'alzamon quoll hoch, und Feueröfen tosten auf, als Ba'alzamon lachte. »Du ehrst mich. Und spielst dich selbst in meinen Augen herunter. Ich habe dir tausend Mal gegenübergestanden. Tausend mal tausend Mal. Ich kenne dich bis auf den tiefsten Grund deiner erbärmlichen Seele, Lews Therin Brudermörder.« Er lachte wieder. Rand hielt sich eine Hand vor das Gesicht, um von der Hitze aus diesem feurigen Mund nicht versengt zu werden.