Byar berührte mit der Hand die Herzgegend und verbeugte sich. »Wie Ihr befehlt, Lordhauptmann.« Er wandte sein Pferd. Seine gesamte Gestalt drückte Zögern aus.
Bornhald verbannte Byar aus seinem Gehirn. Er hatte in dieser Hinsicht alles getan, was möglich war. Er erhob die Stimme: »Die Legion wird im Schritt vorrücken!«
Mit leise quietschenden Sätteln rückte die lange Reihe weißgekleideter Männer langsam in Richtung Falme vor.
Rand blickte vorsichtig um die Ecke zu den heranmarschierenden Seanchan hinüber. Dann schlich er gebückt zurück in die enge Gasse zwischen zwei Ställen. Er verzog das Gesicht. Bald würden sie hier ankommen. Auf seiner Wange klebte verkrustetes Blut. Die Schnittwunden brannten, die er im Kampf gegen Turak davongetragen hatte, aber er konnte im Moment nichts dagegen tun. Wieder durchzuckte ein Blitz den Himmel. Er fühlte die Erschütterung des begleitenden Donnerschlags durch die Stiefel hindurch. Was im Namen des Lichts geschieht da? »Kommen sie?« fragte Ingtar. »Rand, das Horn von Valere muß unbedingt gerettet werden.« Trotz der Seanchan, der Blitze und Explosionen unten in der Stadt schien er in seinen eigenen Gedanken gefangen. Mat, Perrin und Hurin befanden sich am anderen Ende der Gasse und hielten Ausschau nach einer weiteren Patrouille der Seanchan. Der Ort, an dem sie die Pferde zurückgelassen hatten, lag ganz in der Nähe. Wenn sie sie nur erreichen könnten!
»Sie ist in Schwierigkeiten«, murmelte Rand. Egwene. Er hatte so ein eigenartiges Gefühl im Kopf, als seien Teile seines Lebens in Gefahr. Egwene war ein Teil davon, ein Faden in der Schnur seines Lebens, aber da waren auch noch andere, und er fühlte, daß auch sie sich in Gefahr befanden. Hier in Falme. Falls auch nur einer dieser Fäden riß, würde sein Leben niemals mehr vollständig sein, erfüllt, so wie es ihm vorbestimmt war. Er verstand es zwar nicht, aber das Gefühl war eindeutig und klar.
»Hier kann ein einzelner Mann fünfzig Soldaten aufhalten«, sagte Ingtar. Die beiden Ställe waren sich so nahe, daß kaum noch Platz für sie beide blieb, nebeneinander zu stehen. »Ein Mann, der in einer engen Gasse fünfzig Gegner aufhält. Keine schlechte Art zu sterben. Es wurden schon für weit weniger Lieder gedichtet.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Rand. »Ich hoffe es wenigstens.« Ein Dach unten in der Stadt explodierte. Wie komme ich wieder dort hinein? Ich muß zu ihr. Zu ihnen? Er schüttelte den Kopf und spähte erneut um die Ecke. Die Seanchan kamen näher.
»Ich wußte nicht, was er tun würde«, sagte Ingtar leise, mehr zu sich selbst. Er hatte sein Schwert gezogen und überprüfte mit dem Daumen die Schärfe. »Ein blasser kleiner Mann, den man kaum bemerkte, selbst wenn man ihn direkt anschaute. Bring ihn nach Fal Dara, sagte man mir, in die Festung! Ich wollte nicht, aber ich mußte. Versteht Ihr das? Ich mußte. Ich wußte nicht, was er vorhatte, bis er diesen Pfeil abschoß. Ich weiß immer noch nicht, ob er auf die Amyrlin zielte oder auf Euch.«
Rand überlief es kalt. Er sah Ingtar an. »Was sagt Ihr da?« flüsterte er.
Ingtar schien so mit seinem Schwert beschäftigt, daß er es nicht hörte. »Überall wird die Menschheit weggeschwemmt. Nationen gehen unter und verschwinden. Überall sind Schattenfreunde, und keiner von diesen Südländern scheint es zu bemerken oder sich darum zu kümmern. Wir kämpfen um den Erhalt der Grenzlande, um ihre Sicherheit, und trotz alledem breitet sich Jahr um Jahr die Fäule weiter aus. Und diese Südländer halten Trollocs für eine Sage und Myrddraal für Ungeheuer aus den Geschichten der Gaukler.« Er zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. »Es schien nur einen Weg zu geben. Wir ließen uns für nichts und wieder nichts vernichten. Wir verteidigten Menschen, die nicht einmal von uns wußten und denen wir gleichgültig waren. Es schien so logisch. Warum sollten wir uns für sie töten lassen, wenn wir unseren Frieden haben konnten? Besser der Schatten, glaubte ich, als sinnloser Untergang, so wie Carallain oder Hardan oder... Es erschien damals alles so logisch.«
Rand packte Ingtar an den Aufschlägen seines Mantels. »Ihr sprecht in Rätseln.« Das kann er doch nicht ernst meinen. Niemals! »Sprecht deutlich aus, was Ihr sagen wollt! Das ist doch alles nur Unsinn!«
Zum erstenmal sah Ingtar Rand in die Augen. Seine Augen glitzerten feucht. »Ihr seid ein besserer Mann als ich. Schafhirte oder Lord — ein besserer Mann. Die Prophezeiung sagt: ›Laß den, der mich erklingen läßt, nicht an Ruhm denken, sondern an die Rettung.‹ Ich dachte nur an meine Rettung. Ich würde das Horn blasen und die Helden der vergangenen Zeitalter gen Shayol Ghul führen. Das würde sicher ausreichen, um mich zu retten. Kein Mann kann so lange im Schatten wandeln, daß kein Weg mehr zurück ins Licht führt. So sagt man doch. Das hätte mich von dem reingewaschen, was ich war und getan habe.«
»O Licht, Ingtar!« Rand ließ den Mann los und sackte schlaff an die Stallwand. »Ich glaube... ich glaube, es genügt, wenn man es nur will. Ich glaube, Ihr müßt einfach aufhören... einer von ihnen zu sein.« Ingtar zuckte zusammen, als habe Rand das Wort ausgesprochen: Schattenfreund.
»Rand, als Verin uns durch den Portalstein hierherbrachte, habe ich — andere Leben gelebt. Manchmal bekam ich das Horn, doch ich blies es niemals. Ich versuchte, dem zu entkommen, was aus mir wird, doch niemals entkam ich. Immer wurde etwas anderes von mir verlangt, immer etwas Schlimmeres als zuvor, bis ich... Ihr wart bereit, darauf zu verzichten, um einen Freund zu retten. Denkt nicht an den Ruhm. O Licht, hilf mir!«
Rand wußte nicht, was er sagen sollte. Es war, als hätte ihm Egwene erklärt, sie habe Kinder ermordet. Zu schrecklich, um es zu glauben. Zu schrecklich, als daß jemand so etwas zugäbe, wenn er es nicht war. Zu schrecklich.
Nach einer Weile sprach Ingtar weiter, diesmal mit festerer Stimme: »Es muß ein Preis dafür bezahlt werden, Rand. Es muß immer für alles bezahlt werden. Vielleicht kann ich ihn hier bezahlen.«
»Ingtar, ich... «
»Rand, es ist das Recht jeden Mannes, den Tod durch das Schwert zu erwählen, wann er will. Selbst einer wie ich hat dieses Recht.«
Bevor Rand etwas entgegnen konnte, kam Hurin die Gasse heruntergerannt. »Die Patrouille ist abmarschiert«, schnaufte er, »hinunter in die Stadt. Sie scheinen sich dort unten zu sammeln. Mat und Perrin sind weitergegangen.« Er blickte kurz die Straße hinunter und zog den Kopf wieder zurück. »Wir sollten auch schnell schauen, daß wir weiterkommen, Lord Ingtar, Lord Rand. Diese insektenköpfigen Seanchan werden gleich da sein.«
»Geht, Rand!« sagte Ingtar. Rand atmete tief durch. »Das Licht leuchte Euch, Lord Ingtar aus dem Hause Schinowa, und helfe Euch, in der Hand des Schöpfers Schutz zu finden.« Er berührte Ingtars Schulter. »Die letzte Umarmung der Mutter wird Euch willkommen heißen.« Hurin schnappte nach Luft.
»Ich danke Euch«, sagte Ingtar leise. Alle Anspannung schien aus ihm gewichen. Zum erstenmal seit der Nacht des Trollocüberfalls auf Fal Dara stand er so da, wie ihn Rand in Erinnerung hatte: stolz, selbstbewußt und entspannt. Zufrieden.
Rand drehte sich um und bemerkte, daß Hurin ihn ansah, sie beide ansah. »Es ist Zeit, zu gehen.«
»Aber Lord Ingtar... «
»... tut, was er tun muß«, sagte Rand in scharfem Ton. »Doch wir gehen.« Hurin nickte, und Rand schritt hinterher. Rand hörte nun den stetigen Tritt der Stiefel der Seanchan-Soldaten. Er drehte sich nicht um.
47
Das Grab ist keine Grenze...
Mat und Perrin waren schon aufgesessen, als Rand und Hurin zu ihnen stießen. Weit hinter ihnen hörte Rand Ingtars Stimme: »Für das Licht und Schinowa!« Das Klirren von Schwertern mischte sich in das Durcheinander anderer Stimmen.
»Wo ist Ingtar?« rief Mat. »Was ist da los?« Er hatte das Horn von Valere vor sich an das Sattelhorn gehängt, als wäre es ein ganz normales Instrument, aber der Dolch hing an seinem Gürtel. Den Griff mit dem Rubin hielt er schützend in einer blassen Hand, die nur aus Sehnen und Knochen zu bestehen schien.