Er sah nichts außer dicken weißen Schwaden, und trotzdem nahm er gleichzeitig alles wahr, das er zuvor gesehen hatte. Falme, wo jemand auf der Straße gerade die Macht gebrauchte, und den Hafen, das Heer der Seanchan, die sterbenden Weißmäntel, alles unter ihm, alles über ihm, alles so, wie es gewesen war. Es schien ihm, daß überhaupt keine Zeit vergangen, seit das Horn ertönt war, als hätte die Zeit stillgestanden, während die Helden dem Ruf Folge leisteten. Jetzt aber begann die Zeit wieder zu laufen.
Die wilden Aufschreie, die Mat nun dem Horn entlockte, fanden im Nebel ein Echo, und das Trommeln der Hufe wurde schneller. Rand galoppierte in den Nebel hinein und fragte sich, wohin er wohl ritt. Die Wolken verdichteten sich und verbargen die Reihe von Helden, die zu beiden Seiten galoppierten, vor seinen Blicken. Immer mehr wurde vor ihm verborgen, bis er nur noch Mat, Perrin und Hurin klar erkannte. Hurin duckte sich im Sattel und trieb mit weit aufgerissenen Augen sein Pferd an. Mat stieß ins Horn und lachte zwischendurch. Perrins gelbe Augen glühten, und das Banner des Drachen flatterte hinter ihm her. Dann waren auch sie verschwunden, und Rand ritt, wie es schien, allein weiter.
Auf gewisse Weise nahm er sie ja immer noch wahr, aber nur auf die gleiche Weise, wie er auch Falme und die Seanchan wahrnahm. Er wußte nicht, wo sie sich befanden oder wo er war. Er packte sein Schwert fester und spähte in die Nebelschwaden hinaus. Ganz allein ritt er durch den Nebel und wußte, daß es so vorbestimmt war.
Plötzlich stand Ba'alzamon vor ihm im Nebel und breitete die Arme aus.
Der Braune bäumte sich wild auf und warf Rand aus dem Sattel. Rand klammerte sich beim Sturz verzweifelt an sein Schwert. Es folgte aber keine harte Landung. Er staunte nicht schlecht, denn er landete — auf nichts. Im einen Augenblick flog er durch den Nebel und im nächsten nicht mehr. Das war alles.
Als er wieder auf den Beinen stand, war sein Pferd weg, aber Ba'alzamon war noch da. Er schritt mit einem langen schwarzangekohlten Stab in der Hand auf ihn zu. Sie waren allein miteinander und dem wallenden Nebel. Hinter Ba'alzamon lag nur Schatten. Der Nebel hinter ihm war nicht dunkel. Nein, diese Schwärze schloß den weißen Nebel vollkommen aus.
Rand nahm auch noch andere Dinge wahr: Artur Falkenflügel und die anderen Helden trafen im dichten Nebel auf die Seanchan. Perrin mit dem Banner in der Hand handhabte seine Axt, um Angreifer zurückzuschlagen, die ihn zu erreichen suchten. Mat blies immer noch eine wilde Musik auf dem Horn von Valere. Hurin kämpfte am Soden mit Kurzschwert und Schwertbrecher, wie er es gewohnt war. Es schien, als würden sie in einer einzigen Welle von den Seanchan überrannt, doch es waren die Seanchan in ihren schwarzen Rüstungen, die zurückwichen.
Rand trat vor, um sich Ba'alzamon zu stellen. Zögernd bildete er das Nichts um sich herum, griff nach der Wahren Quelle und ließ sich von der Einen Macht erfüllen. Es gab keinen anderen Weg. Vielleicht hatte er keine Aussicht auf Sieg gegen den Dunklen König, es sei denn mit Hilfe der Einen Macht. Sie durchdrang seine Glieder und schien alles in sich aufzunehmen, sogar seine Kleider und sein Schwert. Er fühlte sich wie eine glühende Sonne. Er genoß es, und gleichzeitig hätte er sich am liebsten übergeben.
»Geh mir aus dem Weg!« rief er. »Ich bin nicht deinetwegen hier!«
»Das Mädchen?« Ba'alzamon lachte. Sein Mund wandelte sich zu einem Feuerofen. Seine Verbrennungen waren beinahe verheilt und hatten nur ein paar rötliche Narben zurückgelassen, die auch schon verblaßten. Er wirkte wie ein gutaussehender Mann von mittleren Jahren. Abgesehen natürlich von seinem Mund und seinen Augen. »Welche davon, Lews Therin? Diesmal kann dir niemand helfen. Du gehörst mir, oder du bist tot. In diesem Fall gehörst du mir sowieso.«
»Lügner!« fauchte Rand. Er schlug nach Ba'alzamon, doch an dem Stab aus angekohltem Holz rief sein Schwert lediglich einen Funkenschauer hervor. »Vater der Lügen!«
»Narr! Haben dir die anderen, die du heraufbeschworen hast, nicht gesagt, wer du wirklich bist?« Die Feuer in Ba'alzamons Gesicht brüllten auf vor Lachen.
Selbst im Nichts, in dem er schwebte, lief es Rand kalt den Rücken hinunter. Hatten sie gelogen? Ich will nicht der Wiedergeborene Drache sein! Er griff sein Schwert noch fester. Die Seide zur Seite schieben, doch Ba'alzamon schlug sein Schwert jedesmal weg. Funken flogen wie in der Werkstatt eines Schmieds. »Ich habe in Falme zu tun und nicht mit dir. Mit dir niemals«, sagte Rand. Ich muß seine Aufmerksamkeit auf mich lenken, bis sie Egwene befreien. Auf diese eigenartige Weise nahm er wahr, wie die Schlacht nun um die nebelverhüllten Stellplätze der Wagen und die Koppeln herum tobte.
»Du bemitleidenswerter Krüppel. Du hast das Horn von Valere benützt. Jetzt bist du daran gebunden. Glaubst du, daß diese Würmer von der Weißen Burg dich jemals wieder freilassen werden? Sie werden dir Ketten um den Hals legen, die so schwer sind, daß du sie niemals sprengen kannst.«
Rand war so überrascht, daß er dieses Gefühl sogar im Nichts noch empfand. Er weiß nicht alles! Er weiß es nicht! Er war sicher, daß sich die Freude darüber auf seinem Gesicht zeigte. Um sie zu verbergen, griff er Ba'alzamon erneut an. Die Hummel küßt eine Rose. Mond auf den Wassern. Der Flug der Schwalbe. Blitze zuckten zwischen Schwert und Stab auf. Aufsprühende Funken stoben in den Nebel. Ba'alzamon wich zurück. Seine Augen glühten wie tosende Hochöfen.
Am Rand seines Bewußtseins nahm Rand wahr, wie sich die Seanchan in Falme weiter zurückzogen und verzweifelt ums Überleben kämpften. Damane zerfetzten die Erde mit Hilfe der Einen Macht, doch das half nicht gegen Artur Falkenflügel und die anderen Helden des Horns.
»Willst du für immer ein Wurm unter einem Felsbrocken bleiben?« knurrte Ba'alzamon. Die Dunkelheit hinter ihm brodelte und kochte. »Während wir noch hier stehen, tötest du dich selbst. Die Macht wütet in deinem Inneren. Sie verbrennt dich. Sie tötet dich. Nur ich allein auf der Welt kann dir beibringen, wie man sie beherrscht. Dien mir und bleib am Leben. Dien mir oder stirb!«
»Niemals!« Ich muß ihn lang genug aufhalten. Beeil dich, Falkenflügel! Mach schnell! Er warf sich erneut auf Ba'alzamon. Die Schwalbe fliegt auf. Blatt im Wind. Diesmal war er es, der zurückgetrieben wurde. Verschwommen nahm er wahr, daß die Seanchan einen Gegenangriff begannen und wieder bis zu den Ställen vorstießen. Er verdoppelte seine Anstrengungen. Der
Eisvogel fängt eine Forelle. Die Seanchan wichen vor einem Angriff zurück. Artur Falkenflügel und Perrin ritten Seite an Seite in der Vorhut. Stroh zusammenbinden. Ba'alzamon fing seinen Schlag in einem Springbrunnen roter Glühwürmchen ab und er mußte zurückspringen, damit ihm der Stab nicht den Schädel spaltete. Der Luftzug strich ihm über das Haar. Die Seanchan rückten vor. Funken schlagen. Funken sprühten wie Hagelkörner, Ba'alzamon sprang vor seinem Schlag weg, und die Seanchan wurden in der Bereich der Pflasterstraßen zurückgetrieben.
Rand hätte am liebsten laut aufgeheult. Plötzlich war ihm klar, daß zwischen den beiden Kämpfen eine Verbindung bestand. Wenn er angriff, dann trieben die vom Horn herbeigerufenen Helden die Seanchan zurück. Wich er aber zurück, dann erhoben sich die Seanchan wieder.
»Sie werden dich nicht retten«, sagte Ba'alzamon. »Diejenigen, die dich vielleicht retten könnten, werden weit über das Aryth-Meer gebracht. Falls du sie jemals wiedersiehst, sind sie Sklavinnen an der Leine und werden dich im Namen ihrer neuen Herren vernichten.«
Egwene. Ich kann nicht zulassen, daß man ihr so etwas antut. Ba'alzamons Stimme drang durch seine Gedanken. »Es gibt für dich nur eine Rettung, Rand al'Thor. Lews Therin Brudermörder. Ich bin deine Rettung. Diene mir, und ich schenke dir die Welt. Widerstehe, und ich werde dich vernichten wie so viele Male zuvor. Doch diesmal werde ich dich bis auf den Grund deiner Seele vernichten, ganz und gar und auf ewig!«