»Es müßte sich dann wohl um Tarabon und Arad Doman handeln«, sagte Moiraine und schüttelte den Kopf. »Sie haben sich mehr als dreihundert Jahre lang um die Ebene von Almoth gestritten, aber es ist nie zum offenen Krieg gekommen.« Sie sah Liandrin an; von Aes Sedai erwartete man, daß sie ihre alten Bindungen an Länder und Herrscher ablegten, aber das gelang nur wenigen vollständig. Es war schwierig, nichts mehr für das Land zu geben, in dem man geboren war. »Warum also jetzt?«
»Genug geschwätzt«, warf die Frau mit dem honigfarbenen Haar zornig ein. »Auf dich, Moiraine, wartet die Amyrlin.« Sie machte drei kurze Schritte nach vorn und warf eine hohe Tür auf. »Auf dich wartet bei der Amyrlin kein Geschwätz.«
Moiraine berührte unbewußt die Tasche an ihrem Gürtel und ging an Liandrin vorbei durch die Tür. Sie nickte ihr noch kurz zu, als halte ihr die andere die Tür aus Höflichkeit auf. Sie lächelte aber nicht, als auf Liandrins Gesicht der Zorn aufblitzte. Was hat dieses verdrehte Mädchen nur vor?
Eine Schicht von Teppichen in leuchtenden Farben bedeckte den Fußboden des Vorraums, und der Saal selbst war nett eingerichtet mit Stühlen und Polsterbänken und kleinen Tischchen, alles aus einfach bearbeitetem oder auch poliertem Holz. An den Seiten der Schießscharten hingen Brokatvorhänge und ließen sie damit eher wie Fenster wirken. In dem Kaminen brannte kein Feuer; der Tag war warm, und die Kühle von Schienar würde sich erst bei Sonnenuntergang wieder zeigen.
Hier hielten sich weniger als ein halbes Dutzend der Aes Sedai auf, die mit der Amyrlin gekommen waren. Verin Mathwin und Serafelle von den Braunen Ajah blickten nicht auf, als Moiraine eintrat. Serafelle las konzentriert in einem alten Buch mit abgegriffenem, verblaßten Ledereinband, dessen zerfledderte Seiten sie vorsichtig umblätterte. Die mollige Verin saß mit übergeschlagenen Beinen unter einer Schießscharte, hielt eine kleine Blüte ins Licht und machte Notizen und Skizzen in gestochen feiner Schrift in ein Buch, das sie auf dem Knie liegen hatte. Auf dem Blumentopf neben ihr stand ein offenes Tintengefäß, und auf ihrem Schoß lag ein kleines Bündel weiterer Blumen. Die Braunen Schwestern kümmerten sich um wenig, außer der Suche nach Wissen. Moiraine fragte sich manchmal, ob ihnen eigentlich klar sei, was in der Welt und sogar in ihrer engsten Umgebung vorging.
Die drei anderen Frauen, die sich im Raum befanden, drehten sich um, machten aber keine Anstalten, auf Moiraine zuzukommen; sie musterten sie lediglich. Eine war eine schlanke Frau, ein Mitglied der Gelben Ajah. Moiraine kannte sie nicht; sie verbrachte zu wenig Zeit in Tar Valon, um alle Aes Sedai zu kennen, obwohl es ja nun nicht mehr gerade viele waren. Die beiden übrigen kannte sie allerdings. Carlinya war von so blasser Hautfarbe und von so kaltem Charme wie die weißen Fransen an ihrer Stola und so in allem das Gegenteil der dunkelhaarigen, feurigen Alanna Mosvani von den Grünen, aber sie beide standen stumm da und betrachteten sie ausdruckslos. Alanna raffte mit einer hastigen Bewegung ihre Stola um sich zusammen, doch Carlinya bewegte sich überhaupt nicht. Die schlanke Gelbe Schwester wandte sich mit bedauernder Miene ab.
»Das Licht leuchte Euch allen, Schwestern«, sagte Moiraine. Niemand antwortete. Sie war nicht sicher, ob Serafelle und Verin ihren Gruß überhaupt wahrgenommen hatten. Wo sind die anderen? Es war nicht nötig, daß sich alle hier befanden — die meisten ruhten sich wohl in ihren Gemächern aus und erfrischten sich nach der Reise —, aber sie war nun ziemlich nervös, denn ihr gingen alle Fragen durch den Kopf, die sie nun nicht stellen konnte. Von ihrem Gesicht ließ sich nichts davon ablesen.
Die innere Tür öffnete sich, und Leane erschien, doch ohne ihren mit vergoldeter Flamme verzierten Stab. Die Behüterin der Chronik war ebenso groß wie die meisten Männer, gewandt und graziös, immer noch schön. Sie hatte beinahe kupferfarbene Haut und kurzes, dunkles Haar. Sie trug einen handbreiten blauen Schal an Stelle einer Stola, denn sie saß als Behüterin im Burgsaal und nicht, um ihre Ajah zu repräsentieren.
»Da bist du ja«, sagte sie knapp zu Moiraine und deutete auf die Tür hinter ihr. »Komm, Schwester! Die Amyrlin wartet.« Sie sprach ungekünstelt auf eine abgehackte, schnelle Art, die sich nie änderte, gleich, ob sie zornig oder fröhlich oder aufgeregt war. Als Moiraine Leane hineinfolgte, fragte sie sich, was die Behüterin wohl jetzt fühle. Leane zog die Tür hinter ihnen zu. Sie schlug mit einem Geräusch zu, das sich ein wenig nach einer sich schließenden Zellentür anhörte. Die Personifizierung der Amyrlin saß an einem breiten Tisch in der Mitte des Teppichs, und auf dem Tisch stand ein abgeplatteter Goldwürfel von den Ausmaßen einer Reisetruhe, der fein mit Silberarbeiten verziert war. Der Tisch war wuchtig gebaut, mit dicken Beinen, doch er schien sich unter einer Last zu beugen, die zwei kräftige Männer nur mit Mühe hätten heben können. Beim Anblick des Goldwürfels hatte Moiraine Mühe, ein ausdrucksloses Gesicht zu bewahren. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, stand er sicher in Agelmars Schatzkammer. Als sie von der Ankunft der Amyrlin erfahren hatte, wollte sie ihr selbst davon erzählen. Daß er sich nun schon im Besitz der Amyrlin befand, war wohl nur eine Kleinigkeit, aber eine, die ihr Kopfzerbrechen verursachte. Die Ereignisse könnten ihr vorauseilen.
Sie knickste tief und sagte steif: »Wie Ihr mich gerufen habt, Mutter, so bin ich gekommen.« Die Amyrlin streckte eine Hand aus, und Moiraine küßte ihren Ring mit der Großen Schlange, der sich nicht von denen der anderen Aes Sedai unterschied. Sie erhob sich und sagte mehr im Plauderton, wenn auch nicht so betont, da sie sich der Behüterin bewußt war, die hinter ihr stand: »Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise, Mutter.«
Die Amyrlin war in Tear geboren und kam aus einer einfachen Fischerfamilie, nicht aus einem adligen Haus. Sie hieß Siuan Sanche, aber nur wenige benützten diesen Namen oder dachten auch nur daran. Vor zehn Jahren war sie vom Burgsaal ernannt worden. Sie verkörperte den Amyrlin-Sitz, und das war alles. Der breite Schal um ihre Schultern war in den Farben der sieben Ajahs gestreift. Die Amyrlin gehörte allen Ajahs an. Sie war nur mittelgroß und sah recht gut aus, war aber keine Schönheit, doch in ihrem Gesicht lag eine innere Kraft, die schon vor ihrer Ernennung vorhanden gewesen war, die Kraft eines Mädchens, das die Straßen von Maule und Tears Hafenbezirk überlebt hatte; und unter ihrem klaren blauen Blick hatten Könige und Königinnen und sogar der Kommandant der Kinder des Lichts die Augen niedergeschlagen. Ihr Blick war nun gequält, und um ihre Mundpartie zog sich eine früher nicht vorhandene Härte.
»Wir riefen die Winde, um unsere Schiffe schneller den Erinin hinauffahren zu lassen, Tochter, und sogar die Strömung mußte uns helfen.« Die Stimme der Amyrlin klang tief und traurig. »Ich habe die Überschwemmungen gesehen, die wir in den Dörfern am Flußufer hervorgerufen haben, und das Licht allein weiß, was wir dem Wetter angetan haben. Wir haben uns mit den angerichteten Schäden und all der verdorbenen Saat nicht gerade beliebter gemacht. Und das alles, um so schnell wie möglich nach hier zu kommen.« Ihr Blick wanderte zu dem verzierten Goldwürfel hinüber, und sie erhob ein wenig die Hand, wie um ihn zu berühren, aber als sie wieder sprach, sagte sie nur: »Elaida ist in Tar Valon, Tochter. Sie kam mit Elayne und Gawyn.«
Moiraine war sich bewußt, daß Leane auf der einen Seite stand, schweigend wie immer in der Gegenwart der Amyrlin. Aber sie beobachtete und lauschte. »Ich bin überrascht, Mutter«, sagte sie vorsichtig. »Das ist nicht die richtige Zeit, Morgase ohne den Rat einer Aes Sedai zurückzulassen.« Morgase war eine der wenigen Herrscherinnen, die offen zugaben, daß sie eine Aes-Sedai-Ratgeberin hatte. Fast alle hatten eine, aber wenige gaben es zu.
»Elaida bestand darauf, Tochter, und — Königin oder nicht — ich bezweifle, daß Morgase in einem Kräftemessen der Willensstärke Elaida gewachsen ist. Jedenfalls wollte sie das diesmal vielleicht gar nicht. Elayne hat Talent. Mehr, als ich je zuvor erlebt habe. Sie zeigt jetzt bereits Fortschritte. Den Roten Schwestern schwillt schon mächtig der Kamm deswegen. Ich glaube nicht, daß das Mädchen zu ihrer Denkungsart neigt, aber sie ist jung, und man kann noch nichts sagen. Auch wenn sie nicht fertigbringen, sie herumzukriegen, macht das wenig Unterschied. Elayne könnte durchaus die mächtigste Aes Sedai der letzten tausend Jahre werden, und es ist die Rote Ajah, die sie entdeckt hat. Durch dieses Mädchen haben sie sehr an Einfluß im Saal gewonnen.«