»Aber wieso?« fragte Rand. »Artur Falkenflügel errang hier einen großen Sieg über die Trollocs. Das hat Ingtar gesagt.«
»Hier nicht«, sagte Loial bedächtig. »Offensichtlich hier nicht. ›Von Stein zu Stein verlaufen die Linien des Möglichen zwischen den Welten, die sein könnten.‹ Ich habe darüber nachgedacht und glaube, ich weiß, was ›die Welten, die sein könnten‹ bedeutet. Vielleicht weiß ich es. Welten, zu denen unsere Welt geworden wäre, hätten sich die Dinge nicht anders ergeben. Vielleicht wirkt deshalb hier alles so — ausgebleicht. Weil es ein ›Wenn‹ ist, ein ›Vielleicht‹. Nur der Schatten einer wirklichen Welt. In dieser Welt, glaube ich, haben die Trollocs gewonnen. Möglicherweise haben wir deshalb keine Dörfer und Menschen gesehen.«
Rand lief es kalt über den Rücken. Wenn die Trollocs gewannen, ließen sie keinen Menschen am Leben, außer als Nahrung. Wenn sie auf einer Welt ganz und gar gewonnen hatten... »Wenn die Trollocs gewonnen hätten, wären sie doch überall. Wir hätten jetzt schon tausend von ihnen gesehen. Wir wären bereits seit gestern tot.«
»Ich weiß nicht, Rand. Vielleicht haben sie nach den Menschen sich gegenseitig umgebracht. Trollocs müssen einfach töten. Das ist alles, was sie können, alles, was sie sind. Ich weiß einfach nicht... «
»Lord Rand«, fiel ihm Hurin ins Wort, »dort drunten hat sich etwas bewegt.«
Rand riß sein Pferd herum und war darauf vorbereitet, angreifende Trollocs zu entdecken, aber Hurin deutete nach hinten, den Weg zurück, den sie gekommen waren. Es war nichts zu sehen. »Was hast du gesehen, Hurin?
Wo?«
Der Schnüffler ließ den Arm fallen. »Ganz am Ende dieser Baumgruppe dort, ungefähr eine Meile entfernt. Ich glaubte, es ist — eine Frau... und noch etwas, das ich nicht erkennen konnte, aber... « Er schauderte. »Es ist so schwer, hier Dinge zu erkennen, die man nicht gerade vor der Nase hat. Aaah, dieser Ort verschafft mir eine Darmverschlingung. Vielleicht bilde ich mir nur alles ein, Lord Rand. Hier kann man wirklich Wahnvorstellungen bekommen.« Er saß da mit eingezogenen Schultern, als stemme er sich gegen das Gewicht der Säule. »Kein Zweifel, es war nur der Wind, Lord Rand.«
Loial sagte: »Ich fürchte, wir sollten außerdem noch etwas anderes beachten.« Er klang wieder besorgt. Er deutete nach Süden. »Was seht Ihr dort hinten?«
Rand sah mit zusammengekniffenen Augen hinüber, denn entfernte Dinge schienen schon wieder auf ihn zuzugleiten. »Eine Landschaft wie die, die wir gerade durchquert haben. Bäume. Dann ein paar Hügel und Berge. Sonst nichts. Worauf willst du hinaus?«
»Die Berge«, seufzte Loial. Die Haarbüschel an seinen Ohren hingen herunter, und die Enden seiner Augenbrauen befanden sich auf seinen Wangen. »Das muß Brudermörders Dolch sein, Rand. Es gibt keinen anderen Berg, der hier stehen könnte, sonst wäre diese Welt grundlegend verschieden von unserer. Aber Brudermörders Dolch liegt mehr als zweihundert Meilen südlich des Erinin. Sogar noch um einiges mehr. Man kann Entfernungen hier nur schwer einschätzen, aber... Ich glaube, wir können vor Anbruch der Dunkelheit dort sein.« Er mußte nicht mehr sagen. Sie hätten in weniger als drei Tagen wohl kaum mehr als zweihundert Meilen zurücklegen können.
Ohne nachzudenken, murmelte Rand: »Vielleicht ist dieser Ort wie die Kurzen Wege.« Er hörte Hurin stöhnen und bedauerte sofort, seine Zunge nicht im Zaum gehalten zu haben.
Es war kein angenehmer Gedanke. Betritt eines der Wegetore — man konnte sie gleich außerhalb von Ogier-Steddings und in den Hainen der Ogier finden —, und du kannst die Wege wieder durch ein anderes Tor verlassen und bist zweihundert Meilen von deinem Ausgangspunkt entfernt. Heutzutage waren die Wege düster und schlimm, und sie zu durchqueren bedeutete, daß man sein Leben und seinen Verstand riskierte. Selbst die Blassen fürchteten sich davor, die Kurzen Wege zu benützen.
»Falls es so ist, Rand«, fragte Loial nachdenklich, »kann dann auch hier ein falscher Schritt zum Verhängnis werden? Gibt es Dinge, die wir noch nicht gesehen haben, die mehr können, als uns nur zu töten?« Hurin stöhnte wieder auf.
Sie hatten das fade Wasser getrunken und waren dahingeritten, als hätten sie keinerlei Sorgen. Sorglosigkeit konnte einen auf den Kurzen Wegen ganz schnell töten. Rand schluckte und hoffte, sein Magen werde sich rasch wieder beruhigen.
»Es ist zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, was hinter uns liegt«, sagte er. »Allerdings werden wir von nun an besser achtgeben.« Er sah Hurin an. Der Schnüffler hatte den Kopf eingezogen, und sein Blick huschte unstet umher, als fürchte er, daß sich von irgendwoher etwas auf ihn stürzen könne. Der Mann hatte Mörder verfolgt, aber das hier war mehr, als er ertragen konnte. »Nimm dich zusammen, Hurin. Wir sind noch nicht tot, und wir werden auch nicht sterben. Wir müssen nur etwas vorsichtiger sein. Das ist alles.«
Genau in diesem Augenblick hörten sie den dünnen, weit entfernten Schrei.
»Eine Frau!« sagte Hurin. Selbst diese Art von Normalität schien seine Lebensgeister wieder ein wenig zu wecken. »Ich wußte doch, daß ich... «
Ein weiterer Schrei ertönte, diesmal noch verzweifelter als der erste.
»Nur wenn sie fliegen kann«, sagte Rand. »Sie befindet sich südlich von uns.« Er trat den Braunen und jagte ihn mit zwei Sätzen in den gestreckten Galopp.
»Du hast gesagt, wir müßten vorsichtig sein!« rief Loial ihm nach. »Licht, Rand, denk daran! Sei vorsichtig!«
Rand lag nun auf dem Rücken des Braunen und ließ den Hengst laufen. Die Schreie zogen ihn an. Es war einfach, ihm zu raten, er solle vorsichtig sein, aber in dieser Frauenstimme lag blankes Entsetzen. Sie klang nicht so, als hätte er Zeit, sich vorsichtig zu verhalten. Am Rand eines Bachbettes, das tiefer eingeschnitten war als die anderen, hielt er sein Pferd an. Es kam in einem Schauer von Steinchen und Schmutz zum Stehen. Die Schreie kamen — von dort.
Mit einem Blick erfaßte er die Situation. Vielleicht zweihundert Schritt entfernt stand die Frau neben ihrem Pferd im Bachbett, den Rücken der gegenüberliegenden Uferböschung zugewandt. Mit einem abgebrochenen Ast wehrte sie sich gegen ein knurrendes — Etwas. Rand schluckte. Einen Moment lang war er völlig überrascht. Falls ein Frosch die Größe eines Bären oder ein Bär die graugrüne Haut eines Frosches haben könnte, hätte er in etwa so ausgesehen. Ein großer Bär.
Er zwang sich, nicht an dieses Geschöpf zu denken, sprang vom Pferd und spannte seinen Bogen. Wenn er sich die Zeit nähme, näher heranzureiten, wäre es vielleicht zu spät. Die Frau konnte sich kaum noch das —Ding mit dem Ast vom Leibe halten. Die Entfernung war beträchtlich; er blinzelte immer wieder, während er versuchte, das Ziel richtig einzuschätzen; mit jeder Bewegung des Dinges schien sich die Entfernung allerdings gleich um Spannen zu verändern — aber es war ja eine große Zielscheibe. Es war schwierig, mit der bandagierten Hand an der Sehne zu ziehen, aber der erste Pfeil flog schon, als er noch kaum die Füße auf dem Boden hatte.
Der Pfeil bohrte sich tief in die ledrige Haut; die Kreatur fuhr herum und blickte Rand an. Rand trat trotz der Entfernung einen Schritt zurück. Dieser riesige keilförmige Kopf gehörte zu keinem Tier, das er je gesehen hatte, genausowenig wie das breite schnabelförmige Maul mit den Hornlippen, an denen sich Widerhaken befanden, mit denen ohne weiteres Fleischstücke weggerissen werden konnten. Und das Ungeheuer hatte drei Augen, klein und wild, die von harten Wülsten umgeben waren. Der Körper spannte sich, sprang den Bach hinunter und mit großen, platschenden Sätzen auf ihn zu. Für Rands gestörtes Wahrnehmungsvermögen wirkte es, als seien manche dieser Sprünge doppelt so weit wie die anderen; dabei war er sicher, daß sie alle gleich lang waren.