»Ich weiß nichts über die Benutzung der Portalsteine, Rand. Falls ich etwas getan habe, weiß ich selbst nichts davon.«
Rand betrachtete sie. Sie saß hochgewachsen und mit geradem Rücken in ihrem Sattel und wirkte so edel wie zuvor, wenn auch vielleicht etwas weicher. Stolz und doch verwundbar, und sie brauchte ihn. Er hatte sie für etwa gleichalt wie Nynaeve gehalten — ein paar Jahre älter als er selbst — doch das war falsch gewesen, erkannte er jetzt. Sie war eher in seinem Alter und schön und sie brauchte ihn. Der Gedanke, der bloße Gedanke an das Nichts ging ihm durch den Kopf. Und natürlich an das Licht. Saidin. Um den Portalstein zu benutzen, müßte er wieder in dessen Verderbtheit eintauchen.
»Bleibt bei mir, Selene«, bat er. »Wir werden das Horn, Mats Dolch und einen Weg zurück finden. Das verspreche ich Euch. Bleibt nur bei mir.«
»Ihr seid immer...« Selene holte tief Luft, wahrscheinlich um sich zu beruhigen. »Ihr seid immer so unnachgiebig. Na ja, ich kann Unnachgiebigkeit an einem Mann nur bewundern. An einem Mann der immer gleich alles tut, was man von ihm will, ist nicht viel dran.«
Rand errötete. Das klang sehr nach den Dingen, die ihm Egwene gelegentlich sagte, und sie waren sich ja seit ihrer Kindheit sozusagen als Eheleute versprochen. Diese Worte von Selene zu hören und den Blick zu bemerken, den sie ihm dabei zuwarf, das erschreckte ihn. Er wandte sich hastig Hurin zu, um ihm zu sagen, er solle sich beeilen.
Hinten ihnen ertönte aus einiger Entfernung plötzlich ein Grunzen. Bevor Rand den Braunen herumreißen konnte, um sich umzusehen, erklang erneut ein Grunzen wie das zuvor, und dann noch dreimal etwas weiter zurück. Zuerst konnte er nichts außer der Landschaft erkennen, die vor seinen Augen verschwamm, doch dann entdeckte er sie zwischen den weit auseinanderstehenden Bäumen eines Gehölzes, wie sie gerade einen Hügel überquerten. Fünf Gestalten, schien es ihm, nur eine halbe Meile entfernt, höchstens tausend Schritte, und sie näherten sich in Riesensätzen von mindestens dreißig Fuß.
»Grolme«, sagte Selene gelassen. »Ein kleines Rudel, aber es scheint, sie haben unsere Witterung aufgenommen.«
17
Entscheidungen
»Wir müssen weg, und zwar schnell«, sagte Rand. »Hurin, kannst du der Spur im Galopp folgen?«
»Ja, Lord Rand.«
»Dann aber los. Wir werden... «
»Das hilft nichts«, sagte Selene. Ihre weiße Stute war das einzige Reittier, das nach den harten, bellenden Grunzlauten der Grolme nicht nervös tänzelte. »Sie geben niemals auf. Wenn sie einmal eine Witterung aufgenommen haben, dann folgen die Grolme ihr Tag und Nacht, bis sie ihr Opfer eingeholt haben. Ihr müßt sie entweder alle töten oder einen Weg finden, um zu fliehen. Rand, der Portalstein kann uns wegbringen!«
»Nein! Wir können sie töten. Ich kann es. Ich habe ja schon einen getötet. Es sind nur fünf. Wenn ich nur... « Er sah sich nach einem geeigneten Fleck um und fand ihn. »Folgt mir!« Er preßte die Fersen in die Flanken des Braunen und ließ ihn galoppieren. Er war sicher, daß die anderen folgen würden, und bald hörte er auch das Klappern ihrer Hufe.
Der Fleck, den er erwählt hatte, war ein niedriger runder Hügel ohne Baumbestand. Nichts konnte sich nähern, ohne gesehen zu werden. Er schwang sich aus dem Sattel und bespannte seinen Langbogen. Loial und Hurin gesellten sich zu ihm. Der Ogier schwang probeweise seinen riesigen Bauernspieß, und der Schnüffler hatte sein Kurzschwert in der Hand. Weder Bauernspieß noch Schwert würden ihnen helfen, wenn die Grolme allzu nahe an sie herankämen. Ich werde sie nicht so nahe heranlassen.
»Dieses Risiko ist unnötig«, sagte Selene. Sie beachtete die Grolme kaum und beugte sich ein Stück herunter, um besser mit Rand sprechen zu können. »Wir können den Portalstein vor ihnen erreichen.«
»Ich werde sie aufhalten.« Schnell zählte Rand die noch in seinem Köcher verbliebenen Pfeile. Achtzehn, jeder davon armlang, und zehn hatten Meißelspitzen, die dazu gemacht waren, den Panzer eines Trollocs zu durchdringen. Sie waren ebensogut gegen Grolme einzusetzen wie gegen Trollocs. Er steckte vier davon senkrecht in den Boden, und einen fünften legte er seinem Bogen auf. »Loials Hurin, ihr seid hier unten zu nichts nutze. Sitzt auf und macht euch bereit, Selene zum Stein zu bringen, falls eines der Biester hierher durchkommt.« Er fragte sich, ob er wohl eines dieser Ungeheuer mit dem Schwert töten könnte, falls es dazu kam. Du bist verrückt! Selbst die Macht ist nicht so schlimm wie dies jetzt.
Loial sagte etwas, das er nicht verstand. Er suchte bereits das Nichts, sowohl um seinen eigenen Gedanken zu entfliehen als auch aus Notwendigkeit. Du weißt, was auf dich wartet. Aber so muß ich es wenigstens nicht berühren. Das Glühen war da, das Licht gerade eben außerhalb seines inneren Gesichtsfeldes. Es schien auf ihn zuzufließen, doch die Leere war am Ende alles. Gedanken jagten über die Oberfläche des Nichts, im kränklichen Lichtschein klar sichtbar. Saidin. Die Macht. Wahnsinn. Tod. Gedanken von außerhalb. Er war eins mit dem Bogen, mit dem Pfeil, mit den Dingen, die über die nächstgelegene Anhöhe kamen.
Die Grolme näherten sich weiter, überholten einander bei ihren langen Sätzen, fünf große ledrige Gestalten mit drei Augen und aufgerissenen Hornmäulern. Ihre grunzenden Schreie prallten kaum hörbar am Nichts ab.
Rand war sich nicht bewußt, daß er den Bogen erhob und die Sehne zur Wange und zum Ohr zurückzog. Er war eins mit den Bestien, eins mit dem mittleren Auge der ersten. Dann war der Pfeil unterwegs. Der erste Grolm starb. Einer seiner Artgenossen sprang ihn an, als er stürzte, und das schnabelähnliche Maul riß große Fleischstücke aus dem leblosen Körper. Er knurrte die anderen an, und die machten einen großen Bogen um ihn und hetzten weiter. Wie unter innerem Zwang ließ der eine sein Festmahl liegen und sprang ihnen mit blutverschmiertem Maul nach.
Rand arbeitete unbewußt mit geschmeidigen Bewegungen. Ziehen und loslassen. Ziehen und loslassen.
Der fünfte Pfeil verließ den Bogen, und er senkte ihn. Er befand sich noch tief im Nichts, während bereits der vierte Grolm fiel wie eine Marionette, deren Fäden zerschnitten wurden. Obwohl der letzte Pfeil sich noch in der Luft befand, wußte er, daß er keinen weiteren benötigen würde. Die letzte Bestie brach zusammen, als wären ihre Knochen geschmolzen. Ein gefiederter Pfeil ragte aus ihrem mittleren Auge. Immer war es das mittlere Auge.
»Prachtvoll, Lord Rand«, sagte Hurin. »Ich... ich habe noch nie jemanden so schießen sehen.«
Das Nichts hielt Rand fest. Das Licht lockte ihn, und er... griff... danach. Es umgab ihn, füllte ihn aus.
»Lord Rand?« Hurin berührte seinen Arm, und Rand fuhr zusammen. Die Leere füllte sich mit den Dingen seiner Umgebung. »Fühlt Ihr euch wohl, Lord Rand?«
Rand fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. Sie war trocken, doch er hatte das Gefühl, sie müsse mit Schweiß bedeckt sein. »Mir... mir geht es gut, Hurin.«
»Ich habe gehört, daß es jedesmal leichter wird«, sagte Selene. »Je länger Ihr im Einssein verharrt, desto leichter wird es.«
Rand blickte sie an. »Mag sein, aber ich werde das nicht mehr brauchen, jedenfalls für eine ganze Weile nicht.« Was ist geschehen? Ich wollte... Er wollte es immer noch, das wurde ihm erschreckend klar. Er wollte zurück ins Nichts, wollte fühlen, wie ihn dieser Lichtschein erneut erfüllte. Es war ihm dabei vorgekommen, als lebe er erst jetzt vollkommen, trotz aller Kränklichkeit dieses Lichts, als sei das ›Jetzt‹ nur ein billiger Abklatsch. Nein, noch schlimmer. Er hatte beinahe vollkommen gelebt, aber im vollen Bewußtsein, was ›Leben‹ wirklich hieß. Er mußte lediglich nach Saidin greifen...