»Nicht noch einmal«, murmelte er. Er sah hinüber zu den toten Grolmen. Fünf unförmige Gestalten lagen auf dem Boden. Nicht mehr gefährlich. »Jetzt können wir uns auf den Weg... «
Ein keuchendes, grunzendes Bellen, nur zu bekannt, erklang jenseits der toten Grolme, jenseits des nächsten Hügels, und weitere antworteten darauf. Immer mehr kamen, vom Osten her, vom Westen her.
Rand erhob unsicher seinen Bogen.
»Wie viele Pfeile habt Ihr noch übrig?« wollte Selene wissen. »Könnt Ihr zwanzig Grolme töten? Dreißig? Hundert? Wir müssen den Portalstein erreichen.«
»Sie hat recht, Rand«, sagte Loial bedächtig. »Wir haben keine andere Wahl mehr.« Hurin sah Rand angsterfüllt an. Die Grolme schrien. Ein Dutzend übertönte sich gegenseitig.
»Zum Stein«, stimmte Rand zögernd zu. Wütend schwang er sich wieder in den Sattel und hängte sich den Bogen um. »Führt uns zu diesem Stein, Selene.«
Mit einem Kopfnicken ließ sie ihre Stute umdrehen und setzte sie in Trab. Rand und die anderen folgten ihr — die anderen eifrig, er dagegen zurückhaltend. Das bellende Grunzen der Grolme verfolgte sie. Es schienen Hunderte zu sein. Es klang, als kämen die Grolme in einer halbkreisförmigen Formation von hinten auf sie zu, die nur den Weg nach vorn freiließ. Schnell und sicher führte Selene sie zwischen den Hügeln hindurch. Das Land stieg den Bergen zu an. Die Abhänge wurden steiler, so daß die Pferde über ausgewaschene Felsausläufer und die spärlichen blassen Sträucher stolperten, die sich an die Felsen klammerten. Der Weg wurde schwieriger. Es ging immer steiler nach oben.
Das schaffen wir nicht, dachte Rand, als der Braune zum fünften Mal ausglitt und in einem Steinhagel zurückrutschte. Loial warf seinen Bauernspieß weg; er nützte ihm nichts gegen die Grolme und hinderte ihn nur am Vorwärtskommen. Der Ogier hatte das Reiten aufgegeben. Er zog sich mit einer Hand nach oben, und mit der anderen zerrte er sein großes Pferd hinter sich her. Das zottlige Tier hatte große Schwierigkeiten beim Hochklettern, aber es war immer noch besser dran ohne Loial auf dem Rücken. Die Grolme bellten hinter ihnen, und es klang jetzt näher.
Dann brachte Selene ihre Stute zum Stehen und deutete auf eine Mulde, die unter ihnen im Granit eingebettet lag. Alles befand sich dort: die sieben breiten farbigen Stufen um den blassen Steinboden herum und in der Mitte die hohe Steinsäule.
Sie stieg ab und führte ihre Stute in die Mulde und die Treppe hinab zur Säule. Sie ragte über ihr auf. Sie drehte sich um und sah nach Rand und den anderen. Dutzende von Grolmen stießen ihre lauten bellenden Grunzlaute aus — und zwar sehr nahe. »Sie werden uns bald erreicht haben«, sagte sie. »Ihr müßt den Stein benutzen, Rand. Oder Ihr findet eine Möglichkeit, alle Grolme zu töten.«
Seufzend stieg Rand aus dem Sattel und führte den Braunen in die Mulde. Loial und Hurin folgten ihm eilig. Er dagegen betrachtete unsicher die mit Schriftzeichen bedeckte Säule, den Portalstein. Sie muß in der Lage sein, die Macht zu lenken, wenn auch vielleicht unbewußt, sonst hätte sie uns nicht hierherbringen können. Die Macht schadet Frauen nicht. »Wenn diese Säule Euch hertransportiert hat...«, begann er, aber sie unterbrach ihn.
»Ich weiß, was sie ist«, sagte sie entschieden, »aber ich weiß nicht, wie man sie benutzt. Ihr müßt tun, was zu tun ist.« Sie fuhr ein Schriftzeichen mit dem Finger nach. Es war ein wenig größer als die anderen: ein Dreieck, das innerhalb eines Kreises auf der Spitze stand. »Das steht für die wirkliche Welt, unsere Welt. Ich glaube, es wird Euch helfen, wenn Ihr das im Kopf habt, während Ihr... « Sie spreizte die Hände, als sei sie nicht sicher, was er eigentlich tun solle.
»Äh... Lord Rand?« sagte Hurin vorsichtig. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit.« Er sah sich zum Rand der Mulde um. Das Bellen wurde lauter. »Diese Biester werden in wenigen Minuten hier sein.« Loial nickte.
Rand holte tief Luft und legte die Hand auf das Zeichen, das Selene ihm gezeigt hatte. Er sah sie fragend an, ob er es richtig machte, aber sie schaute einfach nur zu. Nicht die leichteste Sorgenfalte zierte ihre blasse Stirn. Sie glaubt fest daran, daß du sie retten kannst. Du mußt einfach. Ihr Duft füllte seine Nase.
»Ah... Lord Rand?«
Rand schluckte und beschwor das Nichts herauf. Es kam ganz leicht und hüllte ihn mühelos ein. Leere. Leere, bis auf das Licht, das so schwankte, daß es ihm den Magen umdrehte. Leere bis auf Saidin. Aber selbst das Schwindelgefühl war irgendwie fern. Er war eins mit dem Portalstein. Die Säule lag glatt und etwas schlüpfrig unter seiner Hand, aber das Brandzeichen in seiner Handfläche drückte gegen ein wärmendes Dreieck-und-Kreis-Symbol. Muß sie in Sicherheit bringen. Muß sie heimbringen. Der Lichtschein schwebte auf ihn zu, wie es schien, umgab ihn, und er... gab sich... ihm hin.
Licht erfüllte ihn. Hitze erfüllte ihn. Er sah den Stein, auch die anderen, wie sie ihn beobachteten — Loial und Hurin nervös, während Selene keinen Zweifel daran zeigte, daß er sie retten könne —, aber sie hätten genausogut gar nicht da sein können. Das Licht erfüllte alles. Die Hitze und das Licht durchdrangen seine Glieder wie Wasser, das in trockenen Sand einsickert, und sie erfüllten ihn. Das Zeichen brannte in sein Fleisch. Er versuchte, alles in sich aufzunehmen, die Hitze, das Licht. Alles. Das Zeichen... Plötzlich flackerte die Welt, als hätte die Sonne einen Moment lang mit Scheinen ausgesetzt. Und dann wieder. Das Zeichen war wie eine glühende Kohle in seiner Hand. Er trank das Licht. Die Welt flackerte. Flackerte. Es machte ihn krank, dieses Licht; es war Wasser für einen Mann, der am Verdursten war. Flackern. Er saugte daran. Er hätte sich am liebsten übergeben. Er wollte alles. Flackern. Dreieck und Kreis verbrannten ihn. Er fühlte, wie es seine Hand verkohlte. Flackern. Er wollte alles! Er schrie, heulte vor Schmerz, heulte vor Verlangen.
Flackern... Flackern... FlackernFlackernFlackern...
Hände rissen an ihm. Er merkte es nur ganz am Rande. Er taumelte zurück. Das Nichts entschlüpfte ihm, das Licht und das Schwindelgefühl, das ihm den Magen umdrehte. Das Licht. Bedauernd sah er zu, wie es dahinfloh. Licht, es ist doch verrückt, sich so danach zu sehnen. Aber es hat mich so erfüllt! Ich war so... Betäubt sah er Selene an. Sie war es, die ihn an den Schultern hielt und ihm fragend in die Augen sah. Er hob die Hand vor das Gesicht. Das Brandzeichen des Reihers war da, aber sonst nichts. Kein eingebranntes Dreieck im Kreis.
»Bemerkenswert«, sagte Selene bedächtig. Sie blickte sich nach Loial und Hurin um. Der Ogier wirkte verdattert. Seine Augen schienen tellergroß. Der Schnüffler hockte am Boden und stützte sich mit einer Hand ab. Er schien sich kaum anders aufrecht halten zu können. »Alle sind wir hier und auch alle unsere Pferde. Und Ihr wißt nicht einmal, was Ihr getan habt. Bemerkenswert.«
»Sind wir...?« begann Rand heiser, dann mußte er sich unterbrechen, um zu schlucken.
»Seht Euch um«, sagte Selene. »Ihr habt uns nach Hause gebracht.« Sie lachte kurz auf. »Ihr habt uns alle heimgebracht.«
Erst jetzt wurde sich Rand seiner Umgebung bewußt. Die Mulde, in der sie sich befanden, wies keine Stufen auf, aber hier und da sah man einen verdächtig glatt geschliffenen, rot oder blau gefärbten Stein liegen. Die Säule befand sich am Abhang und war unter einem Steinschlag halb begraben worden. Die Symbole darauf waren nicht mehr klar zu erkennen; von Wind und Wasser waren sie verwittert. Und alles sah ganz real aus. Die Farben wirkten kräftig, der Granit war von einem glänzenden Grau, die Sträucher glänzten grün und braun.