Nach diesem anderen Ort schien alles beinahe zu lebhaft.
»Zu Hause«, hauchte Rand, und dann lachte auch er. »Wir sind zu Hause.« Loials Gelächter klang nach dem Brüllen eines Stiers. Hurin tanzte umher.
»Ihr habt es geschafft«, sagte Selene. Sie näherte sich ihm, bis ihr Gesicht Rands Sicht füllte. »Ich wußte, Ihr könnt das!«
Rands Lachen erstarb. »Ich... ich schätze, ja.« Er sah den umgestürzten Portalstein an und brachte ein schwaches Lachen zustande. »Aber ich kann nicht erklären, was ich eigentlich getan habe.«
Selene sah ihm tief in die Augen. »Vielleicht wißt Ihr es eines Tages«, sagte sie leise. »Ihr seid ganz sicher zu Großem bestimmt.«
Ihre Augen schienen ihm so dunkel und tief wie die Nacht, so weich wie Samt. Ihr Mund... Wenn ich sie nun küßte... Er blinzelte und trat hastig einen Schritt zurück, wobei er sich räusperte. »Selene, erzählt bitte niemandem davon. Von dem Portalstein und mir. Ich verstehe es schon nicht, und ein anderer wird es erst recht nicht verstehen. Ihr wißt, wie die Leute auf Ereignisse reagieren, die sie nicht verstehen.«
Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Plötzlich wünschte er sich so sehr, Mat und Perrin wären hier. Perrin wußte, wie man mit Mädchen zu sprechen hatte, und Mat konnte lügen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er beherrschte beides nicht so gut.
Da lächelte Selene und knickste spöttisch. »Ich werde Euer Geheimnis bewahren, Lord Rand al'Thor.«
Rand blickte sie an und räusperte sich wieder. Ist sie jetzt böse auf mich? Sie wäre sicher böse, wenn ich versuchte, sie zu küssen. Glaube ich. Zu allem Überfluß sah sie ihn so an, als kenne sie seine Gedanken. »Hurin, gibt es eine Möglichkeit, daß Schattenfreunde diesen Stein vor uns benutzten?«
Der Schnüffler schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie ritten von hier aus in westlicher Richtung, Lord Rand. Wenn die Portalsteine nicht sehr viel häufiger sind, als ich annehme, sind sie immer noch in dieser anderen Welt. Aber ich brauche kaum eine Stunde, um das genau nachzuprüfen. Das Land ist ja das gleiche wie hier. Ich könnte die Stelle finden, an der ich dort die Spur verloren habe, falls Ihr wißt, was ich meine, und nachschauen, ob sie bereits dort vorbeigekommen sind.«
Rand blickte zum Himmel auf. Die Sonne — eine wunderbar kräftige Sonne, überhaupt nicht blaß — stand niedrig im Westen. Ihre Schatten erstreckten sich bereits aus der Mulde hinaus. In einer weiteren Stunde würde schon Dämmerung herrschen. »Am Morgen«, sagte er. »Aber ich fürchte, wir haben die Spur verloren.« Wir dürfen diesen Dolch nicht aufgeben! Auf keinen Fall! »Selene, falls es wirklich so sein sollte, werden wir Euch am Morgen nach Hause bringen. Wohnt Ihr in der Stadt Cairhien selbst oder...?«
»Ihr habt vielleicht das Horn von Valere noch nicht verloren«, sagte Selene bedächtig. »Wie Ihr wißt, weiß ich ein paar Dinge in bezug auf diese Welten.«
»Spiegel des Rads«, sagte Loial.
Sie sah ihn kurz an und nickte. »Ja, genau. Diese Welten sind auf gewisse Art wirklich Spiegelbilder, besonders diejenigen, auf denen es keine Menschen gibt. Einige spiegeln ausschließlich große Ereignisse aus der wirklichen Welt wider, aber in einigen werfen diese Ereignisse bereits einen Schatten voraus, bevor sie überhaupt geschehen sind. Das Kommen des Horns von Valere wäre sicherlich ein solch großes Ereignis.
Spiegelbilder dessen, was sein wird, sind schwächer als die von Ereignissen, die geschehen oder bereits geschehen sind, genauso wie Hurin sagt, die Spur, der er folgte, sei schwach ausgeprägt gewesen.«
Hurin machte ein ungläubiges Gesicht. »Wollt Ihr damit sagen, Lady Selene, daß ich gerochen habe, wo diese Schattenfreunde sein werden? Licht, hilf mir, das hätte ich nicht gern. Es ist schon schlimm genug, wenn man Gewalt riechen muß, wo sie angewandt wurde, ohne auch noch riechen zu müssen, wo sie angewandt werden wird. Es kann nicht viele Orte geben, an denen nicht manchmal der eine oder andere Gewaltakt geschehen wird. Das triebe mich höchstwahrscheinlich zum Wahnsinn. Der Ort, den wir gerade verließen, hat mich schon beinahe geschafft. Ich konnte es dort die ganze Zeit riechen: Töten und Verletzen und das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Ich konnte es sogar an uns riechen. An uns allen. Selbst an Euch, Lady, falls Ihr mir vergebt, wenn ich das sage. Es lag einfach an diesem Ort, der mich verdreht hat, so wie er die Sicht verdrehte.« Er schüttelte sich. »Ich bin froh, daß wir da weg sind. Ich kann meine Nase noch immer nicht von diesem Geruch freibekommen.«
Rand rieb abwesend über das Brandzeichen in seiner Hand. »Was denkst du, Loial? Könnten wir uns wirklich vor Fains Schattenfreunden befinden?«
Der Ogier runzelte die Stirn und zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, Rand. Ich weiß darüber rein gar nichts. Ich glaube, daß wir wieder in unserer Welt sind. Ich glaube, wir befinden uns an Brudermörders Dolch. Darüber hinaus... « Er zuckte erneut die Achseln.
»Wir sollten Euch nach Hause bringen, Selene«, sagte Rand. »Eure Familie wird sich Sorgen um Euch machen.«
»In ein paar Tagen werden wir wissen, ob ich recht hatte«, sagte sie ungeduldig. »Hurin kann den Ort wiederfinden, an dem wir die Spur verlassen haben; er hat das selbst gesagt. Wir können sie überwachen. Das Horn von Valere wird bestimmt bald dort sein. Das Horn von Valere, Rand. Denkt doch einmal. Der Mann, der das Horn bläst, wird für immer in die Legende eingehen.«
»Ich will nichts mit Legenden zu tun haben«, erwiderte er scharf. Aber wenn die Schattenfreunde dich überholen... Was ist, wenn Ingtar ihre Spur verloren hat? Dann haben die Schattenfreunde das Horn von Valere für immer, und Mat stirbt. »In Ordnung, noch ein paar Tage. Schlimmstenfalls treffen wir vielleicht Ingtar und die anderen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie dort geblieben oder gar umgekehrt sind, nur weil wir... weggingen.«
»Ein weiser Entschluß, Rand«, sagte Selene, »und gut durchdacht.« Sie berührte seinen Arm und lächelte, und er fühlte schon wieder den Wunsch, sie zu küssen.
»Äh... wir müssen näher dort sein, wo sie herkommen werden. Falls sie kommen. Hurin, kannst du noch vor Einbruch der Dunkelheit einen Lagerplatz für uns finden, von dem aus sich die Stelle beobachten läßt, an dem du die Spur verloren hast?« Er blickte zum Portalstein hinüber und überlegte, ob sie in der Nähe schlafen sollten. Dann dachte er daran, wie ihn das Nichts beim letzten Mal im Schlaf überrascht hatte, und an das Licht im Nichts. »Irgendwo ein gutes Stück von hier entfernt.«
»Überlaßt das nur mir, Lord Rand.« Der Schnüffler kletterte in den Sattel. »Ich schwöre, daß ich mich nie wieder schlafen lege, ohne vorher genau nachzusehen, welche Art von Steinen es in der Nähe gibt.«
Als Rand auf dem Braunen aus der Mulde heraus ritt, wurde ihm bewußt, daß seine Blicke vor allem Selene galten und nicht Hurin. Sie schien so kühl und beherrscht, nicht älter als er, doch so königlich, und wenn sie ihn anlächelte so wie jetzt, dann... Egwene hätte nicht gesagt, ich sei weise. Egwene hätte mich Wollkopf genannt. Gereizt gab er dem Braunen die Fersen.
18
Zur Weißen Burg
Egwene stand unsicher auf dem Ladedeck, als die Flußkönigin den breiten Erinin unter dunkel bewölktem Himmel hinunterfuhr. Die Segel blähten sich im Wind, und die Flagge mit der Weißen Flamme flatterte wild am Hauptmast. Der Wind hatte sich erhoben, kaum daß die letzte von ihnen in Medo an Bord gegangen war, und er hatte keinen Moment nachgelassen oder gar aufgehört, weder bei Tag noch bei Nacht. Der Fluß führte nun Hochwasser, das gegen die Schiffe klatschte und sie schneller vorwärtstrieb. Wind und Fluß hatten nicht lockergelassen, genau wie die Schiffe, die in einer Gruppe dahintrieben. Die Flußkönigin führte sie an, und das gebührte ja auch dem Schiff, das die Amyrlin trug.