»Ein Schwert?« fragte die Amyrlin. »Ich habe niemals daran geglaubt, daß Schwerter sehr nützlich seien — selbst wenn Ihr die Fertigkeit besitzt, Kind, gibt es immer Männer, die es genausogut können und kräftiger sind. Aber wenn Ihr ein Schwert haben wollt...« Sie er hob die Hand — Egwene keuchte völlig überrascht, und selbst Nynaeves Augen quollen beinahe heraus — und hielt ein Schwert. Klinge und Griff waren von einem eigenartigen bläulichen Weiß und wirkten irgendwie... kalt. »Aus der Luft erschaffen, Kind. Es ist so gut wie die meisten Stahlklingen, sogar besser als die meisten und doch zu wenigem zu gebrauchen.« Aus dem Schwert wurde ein Hirschfänger. Es schrumpfte nicht etwa; es war erst ein Schwert und dann übergangslos etwas anderes. »Das hier ist zum Beispiel nützlich.« Der Hirschfänger verwandelte sich in Nebel, und der Nebel verflog. Die Amyrlin legte die Hand wieder in den Schoß. »Aber beides kostet mehr Mühe, als es wert ist. Es ist besser und leichter, einfach ein gutes Messer bei sich zu tragen. Ihr müßt lernen, wann Ihr Eure Fähigkeiten anwendet, genauso wie Ihr lernen müßt, wie Ihr sie richtig anwendet und wann es besser ist, die Dinge so anzupacken wie jede normale Frau. Laßt den Schmied Messer anfertigen, um Fische auszunehmen. Gebraucht Ihr die Eine Macht zu oft und in zu hohem Maße, dann gefällt es Euch vielleicht zu sehr. Darin liegt Gefahr. Ihr wollt dann mehr und mehr davon, und früher oder später riskiert Ihr, mehr Macht an Euch zu reißen, als Ihr gefahrlos beherrschen könnt. Und das wiederum kann Euch ausbrennen wie eine abgeschnittene Kerze oder... «
»Wenn ich das alles schon lernen muß«, unterbrach Nynaeve sie unnachgiebig, »dann möchte ich lieber gleich etwas Nützliches erlernen. All dieses... dieses... ›Beweg die Luft, Nynaeve. Entzünde die Kerze, Nynaeve. Jetzt lösch sie wieder. Entzünde sie nochmals.‹ Pah!«
Egwene schloß die Augen. Bitte, Nynaeve, bitte zügle dein Temperament! Sie biß sich auf die Lippen, um es nicht laut auszusprechen.
Die Amyrlin schwieg ein Weilchen. »Nützlich«, sagte sie schließlich. »Etwas Nützliches. Ihr wolltet ein Schwert haben. Stellt Euch vor, ein Mann griffe mich mit einem Schwert an. Was täte ich? Etwas Nützliches, da könnt Ihr sicher sein. Ich glaube, zum Beispiel das hier.«
Für einen Augenblick glaubte Egwene, einen Lichtschein um die Frau sehen zu können, die am anderen Ende des Bettes saß. Dann schien sich die Luft zu verdichten. Es änderte sich nichts, soweit Egwene es sehen konnte, aber sie konnte etwas fühlen. Sie versuchte, den Arm zu heben. Er bewegte sich nicht. Es war, als stecke sie bis zum Hals in Gelatine. Sie konnte nichts außer dem Kopf bewegen.
»Laßt mich frei!« krächzte Nynaeve. Ihre Augen funkelten zornig, und ihr Kopf ruckte von einer Seite zur anderen, doch der Rest von ihr saß so starr wie eine Statue. Egwene wurde klar, daß sie nicht die einzige war, die auf diese Art festgehalten wurde. »Laßt mich los!«
»Nützlich, nicht wahr? Und es hat nur mit dem Element Luft zu tun.« Die Amyrlin sprach in einem Tonfall, als säßen sie beim Tee und klatschten lediglich miteinander. »Ein großer Mann mit viel Muskeln und seinem Schwert, aber das Schwert nutzt ihm genausoviel wie die Haare auf der Brust.«
»Laßt mich los, sage ich!«
»Und wenn es mir nicht paßt, wo er sich befindet, na ja, dann hebe ich ihn hoch.« Nynaeve quiekte wütend, als sie langsam hochschwebte, immer noch in sitzender Haltung, bis ihr Kopf beinahe an die Decke stieß. Die Amyrlin lächelte. »Ich habe mir oft gewünscht, ich könne dies selbst zum Fliegen benutzen. Die Berichte sagen aus, daß die Aes Sedai im Zeitalter der Legenden tatsächlich fliegen konnten, aber sie drücken sich nicht klar genug aus, wie das vor sich ging. Jedenfalls nicht so. Das geht so einfach nicht. Man kann die Hände ausstrecken und eine Truhe aufheben, die genausoviel wiegt wie man selbst. Man sieht stark aus dabei. Aber Ihr könnt Euch selbst packen, wie immer Ihr wollt — es gelingt Euch nicht, Euch selbst hochzuheben.«
Nynaeves Kopf zuckte aufgebracht, doch kein anderer Muskel an ihrem Körper rührte sich. »Das Licht versenge Euch, laßt mich endlich los!«
Egwene schluckte und hoffte, sie werde nicht auch noch hochgehoben.
»Also«, fuhr die Amyrlin fort, »der große haarige Mann. Er kann mir nichts antun, während ich ihm alles antun kann. Tja, wenn es mir in den Kopf käme« — sie beugte sich vor, sah Nynaeve eindringlich an, und ihr Lächeln erschien nicht mehr so freundlich —, »könnte ich ihn einfach in der Luft kopfstehen lassen und ihm das Hinterteil versohlen. Genau so... « Plötzlich schlug es die Amyrlin nach hinten, so daß ihr Kopf gegen die Wand prallte, und dort blieb sie, als hielte sie etwas fest.
Egwene starrte sie an. Ihr Mund war ausgetrocknet. Das gibt es doch nicht. Das kann doch nicht sein!
»Sie hatten recht«, sagte die Amyrlin. Ihre Stimme klang gequält, als habe sie Schwierigkeiten mit dem Atmen. »Sie sagten, Ihr lerntet äußerst schnell. Und sie sagten auch, Ihr müßtet erst ganz schlechter Laune sein, um wirklich zu dem durchzudringen, was Ihr vollbringen könnt.« Sie atmete schwer ein. »Sollen wir uns nicht gegenseitig wieder loslassen, Kind?«
Nynaeve, die immer noch mit funkelnden Augen in der Luft schwebte, rief: »Laßt mich sofort los, oder ich werde...« Schlagartig verzog sich ihr Gesicht vor Überraschung und wirkte dann ein wenig verloren. Ihr Mund bewegte sich lautlos.
Die Amyrlin setzte sich auf und bewegte probeweise die Schultern. »Ihr wißt eben doch nicht alles, oder? Nicht einmal den hundertsten Teil von allem. Ihr habt nicht vermutet, daß ich Euch von der Wahren Quelle abschneiden kann. Ihr könnt sie immer noch dort draußen fühlen, aber Ihr könnt sie genausowenig berühren wie ein Fisch den Mond. Wenn Ihr genug gelernt habt, um zur vollen Schwester erhoben zu werden, wird keine Frau in der Lage sein, mit Euch so etwas anzustellen. Je stärker Ihr werdet, desto mehr Aes Sedai werden nötig sein, um Euch gegen Euren Willen abzuschirmen. Seid Ihr jetzt der Meinung, Ihr solltet es vielleicht doch lernen?« Nynaeve preßte die Lippen ganz fest zusammen und sah ihr grimmig in die Augen. Die Amyrlin seufzte. »Wenn Ihr auch nur um Haaresbreite weniger Potential besäßet, Kind, würde ich Euch zur Oberin der Novizinnen schicken und ihr befehlen, sie solle Euch für den Rest Eures Lebens dort behalten. Aber Ihr werdet bekommen, was Ihr verdient.«
Nynaeves Augen weiteten sich, und sie hatte gerade noch Zeit, mit einem Aufschrei zu beginnen, da fiel sie auch schon mit einem lauten dumpfen Schlag auf ihr Bett zurück. Egwene verzog schmerzlich das Gesicht; die Matratzen waren dünn, und das Holz darunter war ziemlich hart. Nynaeves Gesicht verzog sich nicht. Sie rutschte nur ein winziges Stückchen weiter, um bequemer zu sitzen.
»Und jetzt«, sagte die Amyrlin mit fester Stimme, »werden wir mit den Lektionen beginnen, außer Ihr wünscht noch eine weitere Demonstration. Man könnte auch sagen, laßt uns mit der Lektion fortfahren.«
»Mutter?« fragte Egwene schwach. Sie konnte sich unter Kinnhöhe immer noch nicht rühren.
Die Amyrlin sah sie fragend an und lächelte. »Oh, das tut mir leid, Kind. Eure Freundin hat meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen.« Plötzlich konnte sich Egwene wieder bewegen. Sie hob die Arme, um sich davon zu überzeugen. »Seid Ihr beide bereit zu lernen?«
»Ja, Mutter«, sagte Egwene schnell.
Die Amyrlin zog die Augenbrauen in Richtung Nynaeve hoch.
Einen Augenblick später sagte Nynaeve mit angespannter Stimme: »Ja, Mutter.«
Egwene seufzte vor Erleichterung auf.
»Gut. Nun denn. Entleert Eure Gedanken von allem, bis auf eine Knospe.«