Langsam und lautlos kroch er zu diesem besonderen Schatten hinüber und streckte die Hand danach aus. Er berührte komplizierte, in Gold gewirkte Muster. Es war die Truhe mit dem Horn von Valere. Auf dem Deckel berührte seine Hand etwas anderes. Den Dolch mit blanker Klinge. Im Dunklen weiteten sich seine Augen. Er dachte daran, was der Dolch Mat angetan hatte, und schreckte zurück. Das Nichts verlagerte sich in seiner Erregung.
Der am nächsten schlafende Mann — nicht mehr als zwei Schritt von der Truhe entfernt; alle anderen lagen zumindest Spannen weit weg — stöhnte im Schlaf auf und riß an seinen Decken. Rand gestattete dem Nichts, alle Gedanken und alle Furcht wegzuwischen. Der Mann beruhigte sich unter schlaftrunkenem Gemurmel.
Rand bewegte seine Hand wieder auf den Dolch zu, ohne ihn wirklich zu berühren. Zu Anfang hatte er Mat nicht geschadet. Jedenfalls nicht sehr, nicht zu Beginn. Mit einer schnellen Bewegung hob er den Dolch auf, steckte ihn in seinen Gürtel und riß seine Hand weg, als könne es helfen, wenn er die Zeit eng begrenzte, die er mit seiner Haut in Berührung kam. Vielleicht half es ja wirklich, und Mat würde ohne den Dolch sterben. Er fühlte ihn wie ein Gewicht, das ihn herunterzog. Er drückte sich dagegen. Aber im Nichts waren Gefühle ebenso fern wie Gedanken, und das Gefühl des Dolches an seinem Körper wurde schnell zu etwas Gewohntem.
Er verschwendete nur noch einen Augenblick daran, die in Schatten gehüllte Truhe zu betrachten. Das Horn mußte sich drinnen befinden, aber er wußte nicht, wie er sie öffnen sollte, und konnte sie auch nicht selbst aufheben. Er sah sich nach Loial um. Der Ogier kauerte nicht weit hinter ihm. Sein massiger Kopf drehte sich hierhin und dorthin, als er von den schlafenden menschlichen Schattenfreunden zu den schlafenden Trollocs blickte und zurück. Selbst in der Nacht wurde deutlich, daß Loials Augen weit aufgerissen waren. Im Mondschein wirkten sie untertassengroß. Rand lehnte sich zurück und nahm Loials Hand in die seine.
Der Ogier fuhr zusammen und keuchte. Rand legte einen Finger auf die Lippen, führte Loials Hand zur Truhe und machte Bewegungen, als hebe er sie an. Eine kurze Zeitspanne lang — in dieser Nacht schien sie ewig zu dauern, so von Schattenfreunden und Trollocs umgeben, wie sie waren; es konnte sich aber nur um wenige Herzschläge gehandelt haben — starrte ihn Loial verständnislos an. Dann schlang er langsam seine Arme um die goldene Truhe und stand auf. Bei ihm erschien das irgendwie mühelos.
Außerordentlich vorsichtig, sogar noch vorsichtiger, als er gekommen war, verließ Rand hinter Loial und der Truhe das Lager. Beide Hände am Schwertgriff, beobachtete er die schlafenden Schattenfreunde und die ruhigen Umrisse der Trollocs. Alle diese schattenhaften Gestalten wurden von tieferer Dunkelheit verschluckt, als sie sich entfernten. Beinahe in Sicherheit. Wir haben's geschafft!
Der Mann, der neben der Truhe geschlafen hatte, fuhr plötzlich mit einem unterdrückten Schrei hoch und sprang einen Moment später auf. »Sie ist weg! Wacht auf, ihr Dreckskerle! Sie ist weeeeeg!« Fains Stimme — Rand erkannte sie sogar im Nichts. Die anderen, Schattenfreunde wie Trollocs, erhoben sich und fragten, was los sei, knurrten und fauchten. Fains Stimme erhob sich in einem lauten Aufheulen: »Ich weiß, das bist du, al'Thor! Du versteckst dich vor mir, aber ich weiß, daß du da draußen bist! Sucht ihn! Sucht ihn! Al'Thooooor!« Menschen und Trollocs stoben sich in allen Richtungen auseinander.
In Leere gehüllt, schritt Rand weiter. Beinahe vergessen, seit er das Lager betreten hatte, pulsierte Saidin im Nichts. »Er kann uns nicht sehen«, flüsterte Loial leise. »Wenn wir erst die Pferde erreicht haben... «
Ein Trolloc sprang aus der Dunkelheit auf sie zu. Wo Mund und Nase sein sollten, trug er einen grausamen Adlerschnabel im Gesicht. Sein Sichelschwert pfiff bereits durch die Luft.
Rand bewegte sich, ohne nachzudenken. Er war eins mit der Klinge. Die Katze tanzt auf der Mauer. Der Trolloc schrie, als er stürzte, schrie wieder, bevor er starb.
»Renn, Loial!« befahl Rand. Saidin lockte ihn. »Renn!«
Ihm wurde undeutlich bewußt, daß Loial in einen ungeschickten Galopp verfiel, aber dann ragte ein weiterer Trolloc in der Nacht vor ihm auf. Er hatte die Schnauze eines Bären und erhob seine mit Zacken gespickte Axt. Gewandt glitt Rand zwischen Trolloc und Ogier; Loial mußte das Horn in Sicherheit bringen. Der Trolloc war mehr als einen Kopf größer als Rand und mindestens um die Hälfte breiter gebaut, und er griff ihn mit lautlosem Fauchen an. Der Höfling öffnet seinen Fächer. Diesmal schrie er nicht. Er ging rückwärts hinter Loial her und spähte in die Nacht hinein. Saidin sang ihm ein süßes Lied. Die Macht könnte alle verbrennen, Fain und all die anderen in Asche verwandeln. Nein!
Zwei weitere Trollocs, Wolf und Hammel, schimmernde Zähne und gekrümmte Hörner. Eidechse im Gestrüpp. Er erhob sich geschmeidig von einem Knie, als der zweite stürzte und die Hörner beinahe seine Schulter streiften. Das Lied von Saidin umschmeichelte ihn verführerisch, zog ihn mit tausend Seidenfäden an sich. Alle mit der Macht verbrennen. Nein. Nein! Besser tot als das. Wenn ich tot wäre, wäre auch alles vorüber.
Eine Gruppe Trollocs kam in Sicht, die unsicher herumsuchte. Drei, dann vier. Plötzlich deutete einer auf Rand und heulte auf. Die anderen beantworteten sein Heulen, während sie heranstürmten.
»Laßt es uns beenden!« schrie Rand und sprang auf sie zu.
Einen Moment lang verlangsamten sie überrascht ihren Schritt, doch dann rannten sie mit kehligen, freudigen, blutdürstigen Schreien und erhobenen Schwertern und Äxten weiter. Er tanzte nach dem Lied von Saidin zwischen ihnen hindurch. Die Hummel küßt eine Rose. So verführerisch war dieses Lied, das ihn erfüllte. Katze auf heißem Sand. Das Schwert schien in seinen Händen so wie nie zuvor zum Leben erwacht zu sein, und er kämpfte, als könne eine Reiherklinge Saidin von ihm abhalten. Der Reiher spreizt die Flügel.
Rand sah die bewegungslosen Gestalten auf dem Boden. »Lieber tot sein«, murmelte er. Er erhob den Blick zum Hügel, wo sich das Lager befand. Fain war dort und Schattenfreunde und noch mehr Trollocs.
Zu viele, um gegen alle zu kämpfen. Zu viele, um sich ihnen entgegenzustellen und zu überleben. Er tat einen Schritt auf sie zu. Noch einen.
»Rand, komm weiter!« Loials eindringlicher geflüsterter Ruf trieb durch die Leere zu ihm her. »Um des Lebens und des Lichts willen, Rand, komm!«
Vorsichtig bückte sich Rand und wischte seine Klinge am Mantel eines Trollocs ab. Dann steckte er sie so förmlich, als ob Lan ihn beim Üben beobachte, in die Scheide zurück.
»Rand!«
Als habe er keinerlei Eile, schloß sich Rand Loial bei den Pferden an. Der Ogier schnallte die goldene Truhe mit Riemen aus seinen Satteltaschen auf dem Sattel fest. Seinen Umhang hatte er untergelegt, damit die Truhe fester auf dem abgerundeten Sattel ruhte.
Saidin sang nicht mehr. Es war noch da, dieses herzergreifende Glühen, aber es hielt sich zurück, als hätte er es tatsächlich abgewehrt. Staunend ließ er das Nichts verschwinden. »Ich glaube, ich werde verrückt«, sagte er. Plötzlich wurde ihm klar, wo sie sich befanden, und spähte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Schreie und Heulen erklangen aus den verschiedensten Richtungen: Anzeichen für eine Suche, aber nicht für eine Verfolgung. Trotzdem. Er schwang sich auf den Rücken des Braunen.