»Manchmal verstehe ich kaum etwas von deinen Worten«, sagte Loial. »Wenn du schon verrückt werden mußt, kannst du dann nicht wenigstens damit warten, bis wir wieder bei Lady Selene und Hurin sind?«
»Wie willst du eigentlich reiten mit dem Ding im Sattel?«
»Ich werde rennen!« Der Ogier folgte dem eigenen Vorschlag und trabte los, wobei er das Pferd an den Zügeln hinterherzog. Rand folgte ihm.
Loial legte eine Geschwindigkeit vor, die von den Pferden gerade eben noch eingehalten werden konnte. Rand war sicher, daß der Ogier das nicht lange durchhalten würde, aber Loials Füße versagten ihm den Dienst nicht. Rand kam zu dem Schluß, daß seine Angeberei, er habe einst ein Pferd im Rennen geschlagen, vielleicht gar nicht gelogen war. Hin und wieder blickte sich Loial beim Laufen um, aber die Rufe der Schattenfreunde und das Heulen der Trollocs verklangen mit zunehmender Entfernung.
Selbst als der Hang steiler wurde, verlangsamte sich Loials Schritt kaum, und er trabte schließlich auf ihren Lagerplatz am Berghang, ohne besonders schwer zu atmen.
»Ihr habt es.« Selenes Stimme klang triumphierend, als ihr Blick auf der kunstvoll gearbeiteten Truhe ruhte. Sie trug wieder ihr eigenes Kleid. Für Rand sah es so weiß wie frischer Schnee aus. »Ich wußte, Ihr trefft die richtige Wahl. Darf ich — es einmal ansehen?«
»Wurdet Ihr verfolgt, Lord Rand?« fragte Hurin besorgt. Er betrachtete die Truhe ehrfurchtsvoll, doch sein Blick glitt immer wieder in die Nacht hinaus den Hang hinunter. »Falls sie Euch verfolgen, müssen wir schnell verschwinden.«
»Ich glaube nicht. Geh mal zu dem Vorsprung und sieh nach, ob du etwas entdeckst.« Rand kletterte aus dem Sattel, als Hurin den Hang hinaufeilte. »Selene, ich weiß nicht, wie man die Truhe öffnet. Weißt du es, Loial?« Der Ogier schüttelte den Kopf.
»Laßt mich versuchen...« Selbst für eine Frau von Selenes Größe befand sich Loials Sattel hoch über dem Boden. Sie streckte sich und berührte die kunstvoll gewirkten Muster auf der Truhe. Ihre Hände glitten darüber und drückten zu. Man hörte ein Klicken, und sie hob den Deckel an und ließ ihn auffallen.
Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um hineinzufassen, griff Rand über ihre Schulter hinweg und hob das Horn von Valere heraus. Er hatte es einmal zuvor gesehen, aber noch nie berührt. Obwohl es so schön war, machte es nicht den Eindruck großen Alters oder großer Macht. Ein gewundenes goldenes Horn, das in der schwachen Beleuchtung schimmerte, mit einer eingravierten silbernen Schrift, die sich um die Öffnung am Ende hinzog. Er berührte die fremdartigen Buchstaben mit dem Finger. Sie schienen das Mondlicht zu reflektieren.
»Tia mi aven Moridin isainde vadin«, las Selene. »›Das Grab ist keine Grenze für meinen Ruf.‹ Ihr werdet gewiß größer, als Artur Falkenflügel es je war.«
»Ich bringe es nach Schienar zu Lord Agelmar.« Es sollte eigentlich nach Tar Valon kommen, dachte er, aber ich habe genug von den Aes Sedai. Sollen Ingtar oder Agelmar ihnen das Horn bringen. Er legte das Horn in die Truhe zurück. Es warf den Mondschein zurück und zog den Blick an.
»Das ist Wahnsinn«, sagte Selene.
Rand zuckte bei diesem Wort zusammen. »Verrückt oder nicht, ich werde es jedenfalls so machen. Ich habe Euch gesagt, Selene, daß ich keinen Anteil am Ruhm will. Dort hinten glaubte ich, ich wolle den Ruhm. Eine Zeitlang hatte ich das Gefühl, ich wolle viele Dinge haben...« Licht, sie ist so schön. Egwene, Selene, ich bin keine von beiden wert. »Etwas schien mich besessen zu machen.« Saidin wollte mich einfangen, aber ich habe es mit einem Schwert abgewehrt. Oder ist das auch wahnsinnig? Er atmete tief durch. »Das Horn von Valere gehört nach Schienar. Andernfalls wird Lord Agelmar wissen, was damit zu tun ist.«
Hurin erschien wieder. »Das Feuer ist wieder da, Lord Rand, und größer als zuvor. Und ich hörte Rufe. Alles unten zwischen den Hügeln. Ich glaube nicht, daß sie den Berg hochkommen.«
»Ihr mißversteht mich, Rand«, sagte Selene. »Ihr könnt jetzt nicht zurück. Euer Kurs liegt fest. Diese Freunde der Dunkelheit werden nicht einfach abziehen, weil Ihr ihnen das Horn abgenommen habt. Im Gegenteil. Wenn Ihr keine Gelegenheit findet, sie alle zu töten, werden sie Euch jagen, wie Ihr zuvor sie gejagt habt.«
»Nein!« Loial und Hurin rissen bei Rands Heftigkeit erstaunt die Augen auf. Er sprach sanfter weiter: »Ich weiß keine Methode, sie alle zu töten. Von mir aus können sie ewig leben.«
Selenes langes Haar schlug Wellen, als sie den Kopf schüttelte. »Dann könnt Ihr nicht zurück, sondern nur vorwärts. Ihr könnt die Sicherheit der Mauern Cairhiens in viel kürzerer Zeit erreichen als Schienar. Erscheint Euch der Gedanke an ein paar weitere Tage in meiner Gesellschaft so unerträglich?«
Rand sah die Truhe an. Selenes Gesellschaft war alles andere als hinderlich, doch in ihrer Nähe zwang ihn irgend etwas, so zu denken, wie er nicht denken wollte. Sicher, wieder nach Norden zurückzureiten bedeutete, ein Zusammentreffen mit Fain und seinen Anhängern zu riskieren. Da hatte sie recht. Fain würde niemals aufgeben. Auch Ingtar würde nicht aufgeben. Wenn Ingtar nach Süden weiterzog, würde er früher oder später nach Cairhien kommen.
»Cairhien«, stimmte er zu. »Ihr werdet mir zeigen müssen, wo Ihr wohnt, Selene. Ich war noch nie in Cairhien.« Er faßte nach dem Deckel der Truhe, um ihn zu schließen.
»Ihr habt den Freunden der Dunkelheit noch etwas abgenommen?« fragte Selene. »Ihr habt vorher auch von einem Dolch gesprochen.«
Wie konnte ich den vergessen? Er ließ die Truhe, wo sie war, und zog den Dolch aus dem Gürtel. Die blanke Klinge war gekrümmt wie ein Horn, und die Querträger am Griff waren goldene Schlangen. In den Griff eingelassen war ein Rubin, so groß wie sein Daumennagel. Er schimmerte wie ein böse dreinblickendes Auge im Mondschein. Doch so kunstvoll geschmiedet und so mit einem Fluch belastet, wie er war, fühlte er sich kein bißchen anders an als jedes andere Messer.
»Seid vorsichtig«, sagte Selene. »Schneidet Euch nicht.«
Rand schauderte innerlich. Wenn schon das einfache Tragen gefährlich war, dann wollte er nicht wissen, was ein Schnitt erst anrichten würde. »Er stammt aus Shadar Logoth«, erklärte er. »Er wird jeden schädlich beeinflussen, der ihn länger trägt, wird ihn bis auf die Knochen verderben, so wie Shadar Logoth verdorben wurde. Ohne die Heilkunst der Aes Sedai wird der Fluch schließlich den Träger töten.«
»Also deshalb ist Mat so krank«, sagte Loial leise. »Das hätte ich nicht vermutet.« Hurin starrte den Dolch in Rands Hand an und wischte sich die Hände an der Vorderseite seines Mantels ab. Der Schnüffler wirkte nicht gerade glücklich.
»Keiner von uns sollte ihn länger als notwendig in die Hand nehmen«, fuhr Rand fort. »Ich muß eine Möglichkeit finden, ihn zu tragen... «
»Er ist gefährlich.« Selene sah die Klinge so finster an, als seien die Schlangen echt und giftig. »Werft ihn weg. Laßt ihn liegen oder vergrabt ihn, falls er nicht in andere Hände fallen soll, aber entledigt Euch seiner.«
»Mat braucht ihn«, sagte Rand entschlossen.
»Er ist zu gefährlich. Das habt Ihr selbst gesagt.«
»Er braucht ihn. Die Am... Die Aes Sedai sagte, er werde sterben, wenn sie ihn nicht benutzen könnten, um ihn zu heilen.« Sie haben ihn immer noch am Gängelband, aber dieser Dolch wird es zerschneiden. Bis ich ihn loshabe und das Horn dazu, haben sie auch mich am Gängelband, aber ich werde nicht nach ihrer Pfeife tanzen, sosehr sie sich auch bemühen.