Sam schüttelte den Kopf.
„Wenn die mich unbedingt haben wollen, kommen sie sowieso.“
„Also schlagen wir zuerst zu“, sagte Dean. „Und zwar kräftig.“
Sie kamen an der Tür des Polizeireviers an und drängten sich durch eine Traube von Reportern und Schaulustigen, die vor dem Eingang warteten. Die Tür war verschlossen.
Dean holte seine Marke hervor und ließ sie laut gegen das Glas klacken. Drinnen blickte der Stellvertreter des Sheriffs zu ihnen auf und dann herunter auf ihre FBI-Marken. Er war ein stämmiger Mann mit einem dicken schwarzen Schnurrbart wie aus einem Cartoon. Er kam herüber und schloss die Tür auf.
„Ist Sheriff Daniels da?“, fragte Dean, als er hineinschlüpfte.
„Ja, aber Sie sollten sie im Moment besser nicht stören.“
„Es ist wichtig“, sagte Dean. Er konnte Daniels bereits auf der anderen Seite des Büros erkennen. Sie hatte den Hörer am Ohr und schrie fast hinein. „Ist mir scheißegal, was die Ihnen erzählen“, rief sie. „Ich will alle vom Schlachtfeld runterhaben. Sofort! Diese Männer kontaminieren meinen Tatort.“
„Ihren Tatort?“ Dean ging mit schnellen Schritten auf sie zu und starrte sie an, bis sie gezwungen war, aufzusehen und seiner Anwesenheit Aufmerksamkeit zu schenken. Dann drehte sie sich einfach wieder um und suchte etwas anderes, auf das sie sich konzentrieren konnte. Dean bewegte sich mit ihr und hielt Augenkontakt. Sie starrte wütend zurück und beendete endlich das Gespräch, indem sie den Hörer aufknallte.
„Was wollen Sie?“, fragte sie.
„Wo ist die Schlinge?“
„Die was?“
„Phil Oiler hatte ein Seil um den Hals, als er letzte Nacht starb, und jetzt ist es weg. Bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes waren Sie alleine am Tatort. Sie haben uns die ganze Zeit Informationen vorenthalten. Also, wo ist die Schlinge?“
Daniels’ Gesicht wurde kalkweiß bis auf zwei rote Flecken, die sich auf ihren Wangen zeigten. Sie kniff die Lippen zusammen, und Dean konnte sehen, wie ein kleines Blutgefäß an ihrer Schläfe zu pochen begann.
„Raus aus meinem Büro!“, knirschte sie.
„Noch nicht.“ Dean bewegte sich nicht.
Die Ader an ihrem Kopf pulsierte stärker.
„Ich habe hier zweihundert Bürgerkriegsrollenspieler, die sich weigern, zusammenzupacken und mich meinen Job machen zu lassen. Auf zwei Clowns wie euch kann ich da gut und gerne verzichten.“
„Wir gehen nicht weg, bevor wir ein paar Antworten bekommen haben“, sagte Dean.
„Oh, ich bekomme ebenfalls Antworten. Tatsächlich …“ Ihre Lippen rundeten sich etwas und formten sich zu einem dünnen, humorlosen Lächeln. „Das FBI-Büro in Atlanta ruft mich gleich zurück. Von dort, sagten Sie doch, kommen Sie, nicht wahr?“
„Ja“, sagte Dean. „Aber…“
Das Telefon auf Daniels’ Schreibtisch klingelte.
„Da ist es schon.“ Sie nahm ab. „Hallo? Ja, Sir. Hier ist der Sheriff von Mission’s Ridge, Jacqueline Daniels. Tut mir leid, sie zu belästigen, aber ich habe hier zwei Männer, die behaupten, Bundesagenten zu sein. Ich wollte mir ihre Identität bestätigen lassen.“
„Warten Sie!“, sagte Sam. „Lassen Sie mich mit denen reden.“
„Keine Chance.“ Daniels schüttelte den Kopf und kehrte ihnen den Rücken zu. „Ja, Sir. Agenten Townes und Van Zandt. Das ist richtig, V-A-N-Z-A-N-D-T. Danke! Ich warte.“
Sam blickte Dean an und sah, dass sein Bruder den Sheriff unverwandt anstarrte.
Oder auch nicht.
Eigentlich fixierte er eine Leinentasche, die in der Ecke des Büros lag. Es war dieselbe, die Daniels vom Tatort mitgenommen hatte. Dean stierte sie an, als könnte er durch pure Willenskraft hineinsehen oder sie durch die Luft befördern.
Daniels lächelte und sprach in den Hörer.
„Ja, Sir. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben!“ Sie schüttelte den Kopf. „Jerry?“, rief sie.
„Was ist los, Sheriff?“
„Bitte begleiten Sie diese beiden Männer in eine Zelle. Ihnen wird vorgeworfen, sich fälschlich als Polizeibeamte ausgegeben zu haben.“ Sie lächelte erneut, wobei sie ihren Blick diesmal auf Dean richtete. „Wir haben später noch genug Zeit, herauszufinden, wer die beiden sind. So lange können sie in der Ausnüchterungszelle vor sich hin rotten.“ Sie blickte aus dem Fenster. „Und bringen Sie ihre Schrottkarre auf den Abschlepplatz. Ich will nicht, dass sie meine Straße vermüllt.“
„Moment!“, schnauzte Dean, in dem langsam die Wut hochkochte. „Passen Sie verdammt noch mal auf, was Sie sagen, Lady. Sie können nicht einfach …“
Jerry wandte sich ihnen mit unerwarteter Intensität zu. Jeglicher Ausdruck von Ungezwungenheit und Nachsichtigkeit war aus seinem Schnurrbartgesicht verflogen. Stattdessen hatte sich eine neue Härte auf seine Gesichtszüge gelegt. Seine Hand ruhte auf dem Griff eines Schlagstocks.
„Auf die sanfte oder die harte Tour, Gentlemen. Mir ist beides recht.“
„Okay“, sagte Dean. „Schauen Sie …“
„Also auf die harte“, sagte Jerry und zog den Knüppel aus dem Gürtel. Plötzlich sah er aus wie jemand, der es genoss, ihn bei Vagabunden, Betrunkenen und allen anderen, die sich ihm in den Weg stellten, einzusetzen, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte.
„Warten Sie!“, sagte Sam und erhob die Hände mit den Handflächen nach außen. Das war alles, was er noch sagen konnte, bevor eine Bombe heulend die Luft zerriss und mit ihrer Explosion die Fenster des Polizeireviers erschütterte.
Vierzehn
Die Explosion erwischte Sheriff Daniels und ihren Deputy vollkommen auf dem falschen Fuß. Völlig überrascht wirbelten beide herum. Dean sah, dass Jerry den Knüppel senkte. Mehr musste er nicht wissen.
„Komm schon!“, rief er Sam zu, rempelte den Deputy zur Seite, sprintete aus dem Büro, durch die Lobby und aus der Tür hinaus.
Die Treppe vor der Wache war immer noch voller Reporter und Kamerateams, aber alle hatten ihre Blicke von der Tür abgewandt. Sie hatten ihre Augen jetzt stadtauswärts gerichtet, dorthin, wo gerade eine zweite donnernde Explosion ertönt war und Nachbeben über den Horizont spuckte.
„Was ist das?“, brüllte Sam.
Dean deutete über die niedrigen Gebäude im Stadtzentrum von Mission’s Ridge hinaus. Die Sonne stand jetzt hoch hinter ihnen am Himmel.
„Es kommt vom Schlachtfeld.“
Dean hastete über den Bürgersteig, rannte auf die andere Straßenseite und den Block entlang bis zu der Stelle, an der er den Impala abgestellt war. Dann sprang er hinters Steuer und vergaß fast, sich umzusehen, ob Sam ihm gefolgt war. Aber Sam war ihm auf den Fersen geblieben und schon im Begriff, auf der Beifahrerseite einzusteigen. Dean drehte den Schlüssel um, und der Motor des Impala erwachte röhrend und mit einem beruhigenden Pochen zum Leben. Es war beinahe, als ob der Impala Dean fragen wollte, wo er so lange gewesen sei. Als der Wagen anfuhr und auf die Vororte zuschoss, hinterließen die Reifen Schlangenlinien aus schmorendem Gummi auf dem Asphalt.
Dean konnte bereits die Blaulichter im Rückspiegel blitzen sehen.
„Sieht so aus, als hätten die Dukes mal wieder ’ne ganze Menge Ärger am Hals“, murmelte Dean in seinem breitesten Merle-Haggard-Ton.
Sam sah in den Seitenspiegel. „Kannst du nicht schneller fahren?“
Dean grinste.
„Nein. Aber ich kann das hier!“ Er riss das Steuer hart nach rechts und das Hinterteil des Impala brach im rechten Winkel aus. Sie standen geradewegs vor einer Autowaschanlage namens Dixie Boy Buggie Wash. Einer der Angestellten – ein dürrer Kerl, der in einem Liegestuhl saß – sprang auf, um Dean den Weg in die Waschanlage frei zu machen. Wasser und nasse Schwämme prallten spritzend von der Windschutzscheibe ab und umhüllten das Auto. Dean verrenkte sich fast den Hals, als er den Streifenwagen des Sheriffs zu erkennen versuchte, der die Main Street entlang in Richtung der Explosion davonjagte.