„Warten Sie!“ Daniels legte Dean eilig Handschellen an. Er fühlte, wie sie ihre Hände schnell über seinen Körper gleiten ließ, während sie ihn grob abklopfte.
„Hey!“, sagte Dean. „Versuchen Sie’s mal etwas zärtlicher, hm?“
„Was ist das?“ Sie riss Rubys Dämonenmesser heraus und betrachtete es.
„Das hätte ich gern wieder zurück.“
„Daraus wird nichts.“ Sie öffnete die Autotür, schob ihn neben Sam und schloss sie wieder. Es war eng und roch nach irgendeinem Desinfektionsmittel auf Basis von Chlorbleiche. Weil Deans Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, musste er sich nach vorne beugen. An den hinteren Türen befanden sich zwei Griffe, ein Drahtgeflecht trennte sie von den Vordersitzen.
„Also, das ist Mist“, stellte Dean fest.
Sam nickte und sah Sheriff Daniels die Straße entlang auf ihren Deputy zugehen. Plötzlich hörte er Jerrys Stimme.
„Heilige Scheiße!“
„Hört sich so an, als hätten sie die Hüllen gefunden“, sagte Dean.
„Jep.“
„Das werden die uns in die Schuhe schieben.“
„Zweifellos.“
Sie sahen, wie Sheriff Daniels sich umdrehte und wieder auf den Streifenwagen zukam. Sie ging schnell, rannte fast. Daniels rutschte auf den Fahrersitz, nahm das Mikro des Funkgeräts in die Hand und drückte eine Taste.
„Hier ist Sheriff Daniels. Ich brauche sofort Verstärkung bei einem Verkehrsunfall auf Highway Siebzehn, bei Kilometer Einhundertdreiunddreißig. Mehrere bestätigte Opfer, massive Verletzungen, bitte die Rettungskräfte benachrichtigen!“
Das Funkgerät rauschte, und die Notfallleitstelle bestätigte die Anfrage, indem sie das Gesagte wiederholte.
„Ich hoffe, Sie beide haben einen guten Anwalt“, sagte Daniels und blickte sie finster aus dem Rückspiegel an. „Den werden Sie brauchen.“
„Wir haben ein paar Leute, die wir anrufen können“, sagte Dean.
Der Sheriff antwortete nicht. Sie drehte das Mikrofon zu und klinkte es wieder ein. Dabei rutschte ihr Ärmel hoch, und Dean sah etwas, das er vorher noch nicht bemerkt hatte. Die Symbole eines kleinen Tattoos breiteten sich auf ihrem rechten Handgelenk aus. Es war ein Kreis aus Zahlen, umgeben von winzigen Sternen. Innerhalb des kleineren Kreises formten zwei überlappende Pentagramme ein merkwürdig symmetrisches Muster wie eine Art Netz. Dean warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu, den dieser mit einem Nicken erwiderte. Auch Sam hatte es gesehen.
„Schickes Tattoo“, sagte Dean.
Daniels blieb stocksteif sitzen. Ohne sich umzudrehen, zog sie die Manschette ihres Hemds wieder über das Muster und verdeckte es.
„Ich bringe Sie zur Wache zurück“, sagte sie. „Mein Deputy wartet auf Verstärkung.“
„Das ist ein Santeria-Zauber, oder?“, fragte Sam.
Der Sheriff startete den Motor und wendete den Wagen. Sie trat das Gaspedal voll durch, und die V8-Maschine röhrte, während die Landschaft um sie herum in Vergessenheit geriet.
„Was wissen Sie über diese Schlinge?“, fragte Sam. „Was haben Sie damit vor?“
Daniels Gesicht leuchtete sie rot aus dem Rückspiegel an.
„An Ihrer Stelle würde ich nichts ohne meinen Anwalt sagen.“
„Sie haben viel größere Probleme als uns, Lady“, sagte Dean. „Sie haben den Fahrer gesehen. Glauben Sie ernsthaft, dass wir das waren?“ Er schüttelte den Kopf. „Da draußen in den Wäldern laufen Dinge rum, für die es nicht mal einen Namen gibt.“
Der Sheriff warf einen Blick nach hinten.
„Sie wären überrascht …“, begann sie, als gut fünfzig Meter vor ihnen etwas aus dem Wald hervorbrach und auf die Straße rannte. In der ersten Überraschung dachte Dean, es wäre ein Tier, vielleicht ein Hirsch. Dann sah er, dass es ein Mensch war, der auf der durchbrochenen gelben Linie stehen blieb. Die Person starrte sie mit einer Intensität an, die Dean nur mit einem einzigen Individuum in seinem ganzen Leben verband.
„Achtung!“, rief er.
Vor ihnen rührte Castiel sich kein Stückchen. Daniels warf ihren Kopf herum, sah ihn dort stehen und trat voll auf die Bremse. Der Wagen rutschte seitwärts, brach aus und schlitterte über beide Fahrbahnen und den Seitenstreifen. Dann rollte er auf die Seite und blieb im Straßengraben liegen.
Der zweite Unfall an einem Tag, dachte Dean leicht benebelt. Gute Quote.
Daniels saß zur Seite gelehnt auf dem Fahrersitz, war aber bei Bewusstsein und kämpfte mit dem Sicherheitsgurt.
Draußen lief Castiel an der Fahrertür vorbei und riss die Heckklappe auf. Er griff nach Dean und zog ihn hervor, dann streckte er die Arme nach Sam aus.
Der Sheriff wandte sich nach ihm um.
„Wer zur Hölle sind Sie?“
„Lauft!“ Castiel sah erschöpft aus, so als ob das, was er gerade getan hatte, ihn vollkommen an seine Grenzen gebracht hätte. „Los!“
Sam und Dean, die nach wie vor mit Handschellen gefesselt waren, stolperten die Böschung hinunter und rannten aufs Geratewohl in den angrenzenden Wald. Die Brüder liefen tiefer in das gleichförmig wirkende Gewirr aus Bäumen hinein, und nach einer Weile wurde Dean klar, dass sie die Orientierung verloren hatten und niemals wieder herausfinden würden. Sie liefen trotzdem weiter, ungefähr eine halbe Stunde lang. Zu ihrem Erstaunen wurde das Grün um sie herum immer noch dichter und dichter. Das Gestrüpp zog und zerrte an ihren Sachen, als ob die Natur selbst sich gegen sie gewandt hätte. Keiner von beiden sagte ein Wort.
Der holprige Untergrund war mit heruntergefallenen Ästen, verfilztem Gestrüpp und Löchern übersät. Sam wusste, dass sie geliefert waren, falls einer von ihnen stolperte und sich den Knöchel verstauchte. Keiner von beiden konnte den anderen tragen oder ihm helfen, solange seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren.
Was wäre, wenn es dich trifft, Sam?, fragte eine Stimme. Es war die Stimme aus seinem Traum. Würdest du deinen Bruder zurücklassen?
Nein, natürlich nicht, antwortete Sam, ohne den Mund zu öffnen.
Oh wirklich? Dreißig Silberlinge behaupten das Gegenteil.
Sam verdrängte den Gedanken. Das war nicht schwer. Er zwang sich dazu, sich aufs Laufen zu konzentrieren. Weiter, weiter, weiter!
Dann erreichten sie einen Sumpf.
„Warte!“, keuchte Dean. „Hörst du das?“
Sam schüttelte den Kopf. Sie waren fünfzehn Minuten lang schnell gelaufen, und das Einzige, was Sam im Moment hören konnte, war sein laut pochendes Herz und sein rasselnder Atem. Seine Brust brannte wie Feuer, und die Flammen schossen durch seinen Hals in seinen Kopf.
„Hör zu!“
„Dean …“
„Pssst!“
Sam schwankte zur Seite, der Schweiß lief an seinem Gesicht herunter. Sie standen hier in einem Geflecht von Wurzeln und Ranken, inmitten von summenden Mückenschwärmen, die in Wolken über ihren Gesichtern schwebten und ihre Ohren mit einem konstanten Sirren peinigten. Sams feuchte Handgelenke wanden sich in den Handschellen hin und her. Seine Hände bettelten geradezu darum, die Schwärme wegscheuchen zu dürfen. Moosiger Pilzgeruch stieg vom Boden auf. Sams Beine waren bis zu den Knien mit dickem schwarzem Matsch bedeckt, der bei jedem seiner mühsamen Schritte am Stoff seiner Hosen zu saugen und zu kleben schien. Er wartete und lauschte. Und dann hörte er es.
Bellen. Japsen. Hunde.
„Sind das Bluthunde?“
Dean antwortete nicht. Er sah in die andere Richtung. Als Sam endlich den Ausdruck auf dem Gesicht seines Bruders erkennen konnte, sah er, dass Deans Wangen und Stirn kalkweiß waren. Es sah aus, als ob ihm jemand das Blut bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt hätte, und er wirkte verängstigt und klein. Seine Augen leuchteten so fiebrig grün, dass sie beinahe glühten.