„Ich hab’s“, sagte er. „Jetzt du.“ Er hob die scharfe Zange wieder hoch und zerschnitt die Kette an Sams Handschellen.
„Danke!“
„Keine Ursache.“
Dean trat aus dem Zelt und sah sich das Lagerfeuer an. Er bückte sich, hob den Kanister mit Feuerzeugbenzin auf und verschüttete es in weitem Bogen auf dem Boden, während er zurück zum Zelt ging.
„Geh zurück!“
„Warte mal! Ich will erst noch einen weiteren Blick auf Winstons Leiche werfen.“
„Was? Warum?“
„Ich glaube, ich habe da etwas an seinem Handgelenk gesehen.“ Sam schob die Zeltklappe nach innen, duckte sich ins Zelt und bückte sich neben der Leiche. Er untersuchte ihren Arm.
„Hey, Dean?“
„Ja?“
„Schau dir das mal an!“ Sam zeigte auf Winstons linkes Handgelenk. Die Haut hatte Blasen geworfen und war versengt, als ob jemand versucht hätte, etwas auszubrennen. Man konnte die Tätowierung trotzdem noch erkennen. „Das ist eine weitere Santeria-Sigille, oder?“
„Wie die des Sheriffs, ja“, sagte Dean. „Was bedeutet das?“
„Die Dämonen wollten es entfernen.“
„Oder jemand anders.“ Dean hob den Brandbeschleuniger hoch. „Sind wir hier fertig?“
Sam nickte, und Dean warf ihm einen Kanister zu. Sie verspritzten ihn auf dem Zelt und den Sachen des Dämons. Als sie fertig waren, zog Dean ein glühendes Holzstück aus dem Feuer und warf es ins Zelt.
„Gute Reise“, murmelte er, als sie sich umdrehten und weggingen.
Die Winchesters wählten eine Richtung und gingen los. Sie bahnten sich den Weg durch das Unterholz. Es war jetzt einfacher, weil sie die Hände freihatten – oder zumindest war es einfacher, die Mücken wegzuscheuchen. Sam hatte seinen Orientierungssinn noch nicht so recht wiedergefunden. Das Dämonenlager hatte seinen inneren Kompass geradezu durchdrehen lassen, so als wäre er geradewegs durch ein Magnetfeld gestolpert.
„Es wird wieder feuchter“, sagte Dean, der durch eine weitere Wasserpfütze stapfte. „Wir gehen doch hoffentlich nicht im Kreis, oder?“
„Weiß ich nicht.“
„Super.“
Stöhnend griff Dean in die Tasche und zog sein Handy heraus. Er drückte lustlos auf verschiedenen Tasten herum. „Das Ding ist am Ende. Wusste ich doch. Funktioniert deins noch?“
„Nein. Ist ebenfalls hin.“
Dean runzelte die Stirn.
„Eine Sekunde … Was zur Hölle ist das?“
Sam kniff die Augen zusammen. Weiter vorne lichtete sich der Wald, und die letzten Ranken und Zweige gaben den Blick auf einen Parkplatz frei.
„Ist das …“ Dean schirmte seine Augen mit der Hand ab. „… ein Wal Mart?“
Sie wateten aus dem Wasser, vorbei an einem einsamen Einkaufswagen, und standen dort tropfnass und dreckig in der Hitze des späten Nachmittags. Einen Moment lang sagte keiner von beiden ein Wort.
Von ihrem Standort aus, an der äußeren Grenze des Sumpfgebiets, wirkte der in der Ferne glitzernde Supermarkt wie eine ganze Stadt, wenn nicht ein ganzer Planet. Hier, in der entlegensten Ecke des Parkplatzes, waren die meisten Stellplätze leer, bis auf ein paar Wohnmobile und Sattelzüge, die aussahen, als stünden sie schon seit Monaten an Ort und Stelle. Ganz in ihrer Nähe parkte ein Winnebago von der Größe eines Stadtbusses. Das Gefährt hatte eine Satellitenschüssel auf dem Dach, und an der Seite prangte eine Airbrush-Lackierung, die eine Herde Wildpferde zeigte, die durch die Wüste trabte. Der Wagen sah aus, als würde er entweder einem Rentnerpaar gehören, das bei der Planung seiner Altersvorsorge ein gutes Händchen gehabt hatte – oder der Begleitband von Kid Rock.
„Ich glaube, wir können da nicht einfach so hingehen und fragen, ob uns wer mitnimmt“, sagte Sam.
„Nein“, antwortete Dean. Dann hellte seine Miene sich auf. „Aber ich wette, da ist ein Münztelefon im Laden.“
Sam betrachtete seinen Bruder in seinem völlig zerfledderten Schutzanzug, der total zerrissen und voller Schlamm war. Er sagte nichts.
Neunzehn
Die Abenddämmerung näherte sich bereits, als der schwarze Ford Ranger vor dem Reifen- und Autoteilecenter des Wal-Marts vorfuhr und kurz seine Scheinwerfer aufblendete. Dean und Sam rannten auf den Pick-up zu und sprangen auf die Ladefläche. Beim Hinaufklettern sah Dean, dass der Wagen über ein ansehnliches Waffenregal verfügte, und fühlte sich gleich etwas sicherer. Ganz oben hing eine moderne Pumpgun, darunter eine Bürgerkriegsmuskete, die wunderschön verziert war, aber nicht weniger tödlich aussah. Hinter dem Sitz stand ein Kanister mit Streusalz.
„Rufus wollte mich nicht ohne diese Sachen weglassen“, sagte Tommy McClane, als er sich zu den Winchesters umdrehte und sah, wie Dean die Waffen musterte.
„Gut für ihn.“
„Ich würde Ihnen ja anbieten, vorne mitzufahren, aber Sie sehen beide aus wie nach einem Ringkampf mit einem Riesenwels.“ Er blinzelte aufrichtig erstaunt. „Sind das Bio-Schutzanzüge?“
„So was Ähnliches.“
„Sollte ich Ihnen lieber keine Fragen stellen?“
„Wir werden ausführlich über alles berichten, sobald wir Zeit dazu haben. Im Moment wollen wir einfach nur hier weg.“
„Legen Sie sich hin, und bleiben Sie unter der Abdeckplane! Der Sheriff hat Straßensperren eingerichtet, aber es wird schon dunkel. Ich glaube, ich kann Sie da durchschmuggeln.“
Dean rollte die Plane über sich und seinem Bruder aus. Er spürte, wie der Pick-up anfuhr und auf dem Parkplatz wendete. Bald brummte die Landstraße unter ihnen. Dean schloss die Augen. Er war erschöpft, brauchte eine Dusche, einen Burger und ein Bier. Neben ihm lag Sam und schwieg. Das fand Dean vollkommen in Ordnung. Ihm ging auch so schon genug durch den Kopf.
Diese Zange im Zelt. Die hatte er nicht mehr gesehen, seit er in der Hölle gewesen war. Und in der Hölle hatte er sie jeden Tag benutzt. Hör auf damit! Du willst das jetzt nicht wirklich. Dean richtete sich ein wenig auf und verkrampfte: Der Wagen verlangsamte das Tempo und hielt an. Stimmen und Schritte waren zu hören. Der Schein der Taschenlampe des Polizisten glitt über die Außenseite der Plane hinweg.
„Was haben Sie da drunter?“, fragte der Polizist.
„Tische und Stühle“, antwortete Tommy. Er klang langsam und lakonisch, fast gelangweilt. „Habe meiner Ex versprochen, dass ich sie aufarbeite. Schon erstaunlich, was ein Mann für ein Sixpack Bier und etwas Sex mit seiner Ex macht, wenn Sie wissen, was ich meine.“ Tommy öffnete die Tür und stieg aus. „Hier, ich zeig’s Ihnen.“
Komm schon, Mann!, dachte Dean. Er war sogar zu müde, um sich Sorgen zu machen. Wir sind nicht die Droiden, die ihr sucht.
„Tja, man zeigt etwas Mitgefühl, und schon kriegt sie ganz feuchte Augen“, fuhr Tommy fort. „Als ich das letzte Mal ein paar Sachen für sie erledigt habe, hat sie sich mitten im Wohnzimmer einfach so ausgezogen und …“
„Jetzt halten Sie mal die Luft an!“, sagte der Cop. Er klang schlecht gelaunt.
„Ja, Officer?“
„Sehe ich so aus wie jemand, der etwas über Ihr Sexleben wissen möchte? Ich will das gar nicht hören. Warum bewegen Sie nicht einfach Ihren Arsch hier raus und hören auf, meine Zeit zu verschwenden.“
„Wie Sie wollen.“ Der Pick-up schaukelte ein wenig, die Tür schlug zu, und Dean sah, wie die Taschenlampe sich bewegte.
„Fahren Sie weiter!“, sagte der Polizist. „Und fahren Sie vorsichtig!“
Im Haus der McClanes fanden Sam und Dean fast alles, was sie brauchten: Hydrokortisonsalbe für Sams Mückenstiche und das Beste – heiße, leckere Cheeseburger auf Tommys Küchenherd. Die Brüder spülten sie mit einem Bier runter, während Nate den Bolzenschneider aus der Garage holte und ihnen die Handschellen aufschnitt. Danach rieben Sam und Dean sich für bestimmt zwanzig Minuten die wund gescheuerten Handgelenke, an denen sich rundherum Hämatome gebildet hatten.