Sam beendete seine Mahlzeit und rief dann von Tommys Festnetztelefon aus Sarah Raffertys Handy an. Sie ging nach dem zweiten Klingeln ran und klang froh, von den Winchesters zu hören.
„Nach dem, was heute auf dem Schlachtfeld passiert ist“, sagte sie, „habe ich mir um Sie beide Sorgen gemacht.“
„Es wäre viel schlimmer gekommen, wenn Sie nicht gewesen wären“, sagte Sam. „Sie haben schnell geschaltet.“
„Ich musste daran denken, was Sie über Sheriff Daniels gesagt haben. Wie sie Ihnen mehr eine Last als eine Hilfe war. Aber Sam …“ In Sarahs Stimme schwang eine Portion Zweifel mit. „Sind Sie wirklich vom FBI?“
„Nein“, antwortete er. „Es ist etwas anderes.“
„Was denn? Eine andere Regierungsbehörde?“
„Nicht genau. Ich glaube, es ist sinnlos zu versuchen, das zu erklären.“
„Sie wären vielleicht überrascht“, sagte sie. „Ich will Sie aber nicht drängen. Nicht, wenn Sie wirklich herausfinden wollen, was mit Dave passiert ist. Das wollen Sie doch, oder?“
„Ja, daran hat sich nichts geändert.“
„Dann bin ich froh, dass ich Ihnen geholfen habe.“ Sie seufzte. Ihre Stimme hörte sich zittrig und gehetzt an. „Jedenfalls glaube ich das.“
„Wo sind Sie, Sarah?“
„Ich bin noch in der Nähe des Schlachtfelds. Hier sind viele von uns – ich meine, von uns Rollenspielern. Die Polizei hat fürs Erste aufgehört, uns zu vertreiben. Sie sind noch nicht einmal dazu gekommen, sich die Haubitzen auf dem Hügel anzusehen. Wir haben ihnen gesagt, dass wir nirgendwohin gehen. Nicht, bis wir eine vernünftige Erklärung für das bekommen, was da heute passiert ist. Bis jetzt haben die Behörden nicht einmal offiziell verlauten lassen, dass überhaupt etwas Außergewöhnliches geschehen ist. Es ist, als hätte Sheriff Daniels geniest und alle anderen mit einer Desinformationsgrippe angesteckt.“
Die Desinformationsgrippe. Sam fand, das war eine erstaunlich treffende Beschreibung. „Seien Sie nur vorsichtig!“, sagte er. „Passen Sie gut auf sich auf! Wir sprechen uns bald wieder.“
„Dann werden Sie mir etwas mehr erklären?“
„Ich werde es versuchen“, sagte er. Das war so nahe an der Wahrheit, wie es ging, und Sam hoffte, das würde reichen.
Als Dean sein Bier ausgetrunken hatte, schob er seinen Teller zurück und stand auf, um Tommy anzusehen.
„Ich nehme nicht an, dass wir uns hier irgendwo ein wenig säubern können?“
„Ich habe mich schon gefragt, wann dieses Thema aufkommt.“ Tommy betrachtete die zerfledderten Schutzanzüge, die die Winchesters immer noch am Leibe trugen. „Ich würde Ihnen meine Sachen anbieten, aber Sie sind beide größer als ich, und ich habe nichts, was Ihnen passen könnte.“
„Unsere Sachen sind noch im Motel“, sagte Sam. „Und im Moment können wir nicht selbst hingehen und sie holen.“
„Ja, die Polizei wird es beobachten“, stimmte Tommy zu. Er sah sich um und zog eine Augenbraue hoch. „In der Stadt ist ein Kaufhaus, in dem ich Ihnen ein paar saubere Sachen besorgen könnte – wenigstens Jeans und T-Shirts. Sie könnten Nate so lange Gesellschaft leisten.“
„Wir wissen das sehr zu schätzen“, sagte Sam. Er öffnete seine Geldbörse und gab Tommy etwas Geld für die Klamotten. „Ich werde sogar abwaschen.“
„Abgemacht.“
Tommy hielt inne, als ob er über etwas nachdächte.
„Oh, und Sam?“
„Was ist?“
„Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin auf Ihrer Seite – Sie sind immerhin Jäger.“ Er sah Sam direkt in die Augen. Seine Miene war finster. „Was auch immer hier gerade abgeht – Ich hätte gerne eine Erklärung dafür.“
„Keine Sorge, die werden Sie bekommen.“
Tommy drehte sich um und ging. Sam stellte sich ans Spülbecken und fing an, Teller und Bestecke abzuwaschen. Einen Augenblick später tauchte Nate neben ihm auf und begann die Teller sorgfältig abzutrocknen, bevor er sie behutsam im Trockengestell platzierte. Der Junge arbeitete schnell und sehr effizient. Sam sah zu ihm hinüber, und sein Blick streifte die Geschirrspülmaschine, die direkt neben dem Waschbecken stand.
„Ihr habt eine Maschine“, sagte Sam. „Benutzt ihr die nicht?“
Nate zuckte mit den Schultern.
„Wir sind ja nur zu zweit. Dad sagt, es lohnt sich nicht, sie anzuwerfen.“
„Stimmt.“ Sam gab ihm einen weiteren Teller, und der Junge trocknete ihn mit geschickten Geschirrtuchbewegungen ab.
Vor ihnen auf einem Regal stand ein einfacher Holzrahmen mit einem Foto von Tommy McClane und einer hübschen Rothaarigen Mitte zwanzig. Sie trug eine rosafarbene Bluse mit Rundausschnitt, Jade-Ohrringe und hielt ein Kleinkind auf dem Arm. Das war offensichtlich Nate, als er ungefähr ein Jahr alt war. Nates Gesicht zeigte ein riesiges, schiefes Grinsen und auf seinem T-Shirt stand: ICH MACHE ALLE STUNTS SELBST.
„Mein Bruder und ich sind auch ohne Mutter aufgewachsen“, sagte Sam. Er gab Nate noch einen Teller. Der Junge nahm ihn kommentarlos an, spülte ihn ab, trocknete ihn und stellte ihn weg. „Es war nicht immer einfach.“ Das war der letzte Teller. Sam stellte das Wasser ab und trocknete sich die Hände mit einem Geschirrtuch. „Das versteht nicht jeder.“
Der Junge sagte immer noch nichts, er sah nicht einmal auf. Einen Moment lang fürchtete Sam, dass er Nate zu nahe getreten und zu persönlich geworden war. Dann sah der Junge ihn an. Er wirkte unsicher, fast verwirrt.
„Mochtest du deinen Dad?“, fragte er.
„Mein Dad …“, begann Sam und war dann unsicher, was er als Nächstes sagen sollte. „Er hat mir eine Menge beigebracht. Er hat sich bemüht.“
„Meiner auch“, sagte Nate. „Die Sachen, von denen er erzählt, die machen mir manchmal ganz schön Angst, weißt du? Ich glaube, dass er möchte, dass ich später, wenn ich groß bin, so bin wie er. Die Historische Gesellschaft übernehme und … alles andere. Aber manchmal …“ Er zuckte mit den Schultern.
„Manchmal was?“
„Meine Mutter war eine Künstlerin. Ich meine, was, wenn ich lieber so etwas machen möchte?“
„Dann solltest du das tun“, bestärkte Sam ihn. „Wenn es das ist, was du machen willst, dann solltest du es versuchen.“
Nate runzelte wieder die Stirn.
„Ich träume manchmal noch von ihr, weißt du? Obwohl ich noch ziemlich klein war, als sie … als es passiert ist.“ Er blinzelte Sam an. „Komisch, oder?“
„Sind es denn schöne Träume?“
„Ja.“
„Dann ist es doch gut. Das ist dann wohl deine Art, dich an sie zu erinnern.“
Kurz darauf öffnete sich die Haustür, und Tommy kam mit den neuen Sachen zurück. Sam und Dean gingen nach oben, um zu duschen und sich umzuziehen. Während er sich den Dreck abwusch, machte Sam sich eine gedankliche Notiz, den Jungen ein bisschen mehr über seine Mutter auszufragen.
Nachdem Sam und Dean wieder vorzeigbar waren, kamen alle in der großen, altmodischen Südstaatenküche zusammen und versammelten sich rund um den Kiefernholztisch der McClanes. Die Fenster waren offen, und die Nachtgeräusche der Grillen und Zikaden drangen durch die Fliegenfenster. In der Ferne pulsierten und flackerten Blitze in der Dunkelheit. Ihnen folgte leise rollender Donner. Tommy ließ leise das Braves-Spiel im Radio laufen. Als das Gewitter näher kam, verschwamm der Empfang zu einem statischen Rauschen.
„In Ordnung“, sagte er schließlich. „Ich habe lange genug darauf gewartet. Erzählen Sie mir jetzt, was da draußen passiert ist?“
Dean öffnete knackend ein neues Bier, während Sam berichtete, was sie auf der Straße gesehen hatten. Er beschrieb die schwebende schwarze Substanz, die aus Beauchamps Überresten geströmt war und dass Dean das gleiche Ding aus Dave Wolvertons Leiche hatte kommen sehen.