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Raus hier!, dachte er kopfschüttelnd. Verschwinde zur Hölle aus meinem Kopf, Kiste!

„Dean“, sagte Sam mit schwankender Stimme. Auch er wirkte verunsichert. „Sieh mal!“

Mit einem Grunzen öffnete Dean seine Augen wieder und blickte nach unten. Dabei vermied er sorgfältig, das Deckelinnere des Reliquiars mit den Augen zu streifen. In der Mitte des Kästchens, zusammengerollt wie eine Schlange auf rotem Samt, sah er die Schlinge. Sie war aus dickem, rauem Seil, steif vom Alter, und der Knoten starrte vor Blut, das vor eineinhalb Jahrhunderten vergossen worden war.

„Das ist sie also“, sagte Dean. „Das ist die Schlinge, die Aristede Percy geknüpft hat.“

„Sie hat wirklich sieben Windungen“, sagte Sam und hielt die Schlinge hoch. „Nur, dass die siebente verborgen ist. Sieh mal? Sie …“

Er erstarrte, die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand, schlug auf dem bleiverkleideten Boden auf und rollte dann träge in einer Art Halbkreis an die Wand.

Dean zielte mit der eigenen Lampe auf seinen Bruder. Sam starrte ihn mit großen Augen an und hielt die Schlinge immer noch lose zwischen den Fingern. Sein Gesichtsausdruck zeigte schiere, unverhohlene Panik, und seine Botschaft war auf erschreckende Weise klar: Ich ersticke.

Unter Sams Kinn drückte sich eine schattenartige Einbuchtung gegen seinen Hals und schnürte ihm die Luftröhre zu. Es war, als würden sich unsichtbare Spanndrähte immer tiefer in die Haut an seinem Hals graben. Sams Augen traten aus ihren Höhlen, der Mund öffnete und schloss sich, unfähig, mehr als nur ein paar erstickte Kehlkopflaute von sich zu geben. Sam fiel auf die Knie.

„Bleib ruhig, Sam! Bleib ruhig, ich schneide dir das Ding ein für alle Mal ab!“

Vorsichtig, bedacht, die Schlinge auf keinen Fall zu berühren, schlug Dean seinem Bruder die Schlinge mit der Taschenlampe aus der Hand. Sie landete mit einem dumpfen, beinahe tropfnassen Schlag auf dem Boden. Dean klemmte die Taschenlampe unter den Arm und griff nach der Scheide an seinem Gürtel, um das Dämonenmesser hervorzuziehen.

Aber die Scheide war leer.

Das Messer war weg.

Einundzwanzig

Sam lag auf dem Boden und starrte Hilfe suchend zu Dean hoch. Sein Gesicht, das vorher vollkommen blass ausgesehen hatte, nahm eine zyanotische Schattierung an, als sich die ersten Anzeichen irreversiblen Sauerstoffmangels tief in seine Gesichtszüge gruben. Dean fand irgendwo eine lose Stange, hob damit die Schlinge hoch und warf sie zurück in das Reliquiar. Dann wirbelte Dean herum und ließ den Strahl seiner Taschenlampe durch den Raum blitzen.

Wann habe ich das Messer verloren?

Hätte er es nicht hören müssen, wenn es auf den Metallboden gefallen wäre?

Was ist, wenn ich es schon vorher verloren habe? Draußen oder in einem anderen Raum?

Er blickte wieder auf den Boden. Sam hatte sich jetzt leicht zur Seite geneigt, er war nicht einmal mehr in der Lage, aufrecht zu sitzen. Mit schwindendem Bewusstsein begann sich auch der Ausdruck der Panik in seinem Gesicht zu verflüchtigen. Dean bückte sich, zog seinen Bruder wieder hoch und suchte nach einem Funken Leben in dessen Augen.

Er wird gleich ohnmächtig, drängte eine innere Stimme Dean. Er erstickt. Du musst etwas tun!

Hart blitzte in ihm die Erinnerung an die Worte eines Krankenwagenfahrers auf.

Wenn du es mit jemandem zu tun bekommst, der erstickt, ist keine Zeit für Experimente. Denn Zeit ist gleich Gehirn.

Dean blieb keine Zeit, nach dem Messer zu suchen.

Verzweifelt und weil ihm die Möglichkeiten ausgingen, zog Dean seinen Bruder vor sich und umschlang dessen Oberkörper von hinten mit seinen Armen. Er ballte eine Hand zur Faust, die er mit der anderen Hand fest packte und rammte sie dann in Sams Zwerchfell.

Nichts passierte.

Dean versuchte es erneut, diesmal mit noch mehr Wucht. Sam gab ein abruptes, schluckaufartiges Krächzen von sich. Etwas flog aus seinem Mund und schlug klimpernd auf dem Boden auf. Begierig schnappte Sam nach Luft.

„Alles in Ordnung?“, fragte Dean.

Sam rang sich ein schwaches Nicken ab. Tränen liefen ihm aus Augen und Nase, und der Schmutz überzog sein Gesicht wie eine Kriegsbemalung. Einen Moment lang sah er wie ein Sechsjähriger aus, der gerade vom Fahrrad gefallen war und sich das Knie aufgeschlagen hatte.

„Was …?“, krächzte er. „Was ist da aus mir herausgekommen?“

Dean ließ den Strahl der Taschenlampe über den bleiverkleideten Boden gleiten und blieb an einem kleinen, nassen Lederbeutel hängen, der keine zwei Meter von ihnen entfernt lag. Seine Verschlussschnur hatte sich gelockert. Ein paar zerkratzte Silberstücke lagen darum verstreut und leuchteten, wie tote, teilnahmslose Augen.

„Dreißig Silberlinge – tyrische Schekel“, flüsterte Dean und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Reliquienschrein. „Die Schlinge …“

Ein undeutliches Klimpern war zu hören. Er richtete seine Taschenlampe wieder zu dem Beutel mit den Silberstücken.

„Dean?“ Sams Stimme klang heiser. „Was …?“

Aus der hintersten Ecke drang ein Scharren an ihre Ohren.

„Wir sind hier unten nicht alleine“, sagte Dean.

Er blickte auf die verstreuten Münzen. Eine lange, schlanke Hand tauchte aus der Dunkelheit auf und griff sich eine Silbermünze. Dean riss die Lampe hoch und leuchtete in ein bärtiges Gesicht, das sie wild angrinste. Die Gestalt kam auf sie zu. Der Mann war groß und spindeldürr. Bis auf seine dichte schwarze Gesichtsbehaarung war seine Haut unnatürlich weiß und glatt. Aber sie wirkte auch feucht. Weniger wie Porzellan, eher wie das Fleisch eines Champignons. Von seinen abgemagerten Schultern hing ein farbloser, schäbiger Umhang mit Kapuze, der bis über die Füße reichte. Der Saum des Gewandes schleifte auf dem Boden.

„Ich glaube, das gehört mir.“ Kniend begann die Gestalt die Silberstücke aufzusammeln, um sie vorsichtig wieder in den Beutel zu legen, aus dem sie herausgefallen waren. Dann ließ er den Beutel unter seinem Umhang verschwinden.

„Judas?“, flüsterte Sam ungläubig.

„Nein. Ich bin eher so etwas wie sein Adjutant.“ Der Mann blickte wieder auf, und jetzt sah Dean seine Augen, deren Höhlen in einem absoluten, seelenlosen Schwarz gefärbt waren.

„Super“, sagte Dean. „Noch so ein dreckfressender Dämon. Genau, was wir …“

„Ich bin kein Dämon.“ Die Arme der Gestalt schossen nach vorne und seine Hände legten sich um Deans Hals. Der Mann riss ihn von den Füßen und hob ihn geradewegs in die Luft. Die Taschenlampe entglitt Dean, fiel zu Boden und erlosch. Für einen schwerelosen, wirbelnden Augenblick hatte er Zeit zu denken: Gleich wird es wehtun. Dann kollidierte schon etwas Flaches, Hartes – eine Wand oder der Boden – mit seinem Schädel und ließ ihn wie eine Glocke scheppern.

Dean sah erst doppelt, dann dreifach. Ganze Sternbilder – ganze Galaxien voller Sterne – ratterten durch seinen Kopf. Als er versuchte, sich aufzusetzen, hatte er nur den kupferigen Geschmack seines eigenen Blutes auf der Zunge.

„Bist du sicher … dass du kein Dämon bist?“, krächzte Dean.

„Ich bin ein Sammler“, sagte die Gestalt. „Die menschliche Bezeichnung, die es am ehesten trifft, dürfte wohl Geist sein. Abgesehen davon, dass ich eine feste Form einnehme. Um das noch einmal zu demonstrieren …“ Er zog einen Fuß mit irrer Geschwindigkeit nach hinten, schwang ihn nach vorne und traf Dean hart am Kopf.

Es war ein perfekt platzierter Tritt, der Dean knapp oberhalb seines Ohrs traf, und er spürte, wie die Welt um ihn herum zügig wie ein Zelt zusammensackte, dem man die Stangen weggetreten hatte.

Sam griff nach seiner Taschenlampe und schwenkte sie, bis er sehen konnte, dass der „Sammler“ auf ihn zukam. Mit jedem klirrenden Schritt schwang der Mantel der Gestalt schwer vor und zurück. Als sie näher kam, konnte Sam erkennen, dass auf dem Kleidungsstück eine Vielzahl – möglicherweise Hunderte – kleiner Taschen angebracht war. Jede enthielt einen Lederbeutel oder ein Täschchen voller Silberlinge. Der Umhang musste fast eine halbe Tonne wiegen.