„Wo ist Judas?“
„Hat’s nicht hierher geschafft“, antwortete die Gestalt. „Aber er lässt seine Grüße ausrichten.“
„Ist es das, was du machst?“, fragte Sam. „Du läufst bis in alle Ewigkeit herum und sammelst für ihn Blutgeld ein?“
„Immerhin bin ich nicht derjenige, der die Apokalypse ausgelöst hat“, antwortete der Sammler und lächelte. „Nicht, dass ich mich beschwere. Mein Arbeitgeber ist jetzt wieder angesagt. Plötzlich wollen alle die Schlinge – Menschen, weniger bedeutende Dämonen, Hexen.“ Er zuckte klimpernd mit den Schultern. „Verrat erlebt gerade einen Bullenmarkt.“
Sam sah sich um. Er konnte nur eine Waffe im Raum entdecken. Er hob den Reliquienschrein hoch und schleuderte ihn mit aller Kraft auf das Wesen.
Der Sammler duckte sich lachend. Die Kiste prallte an der Wand ab und landete zwischen ihnen. Judas’ Helfer schritt darüber hinweg und ließ seinen ausgestrecktem Arm mit übermenschlicher Schnelligkeit auf Sam zusausen. Als der Schlag Sam traf, steckte die gesamte Wucht des in den Ärmeln verborgenen Metalls in ihm. Es war, als ob der Körper des Sammlers selbst aus dem gesammelten Silber bestehen würde. Sams Kopf wurde in den Nacken geschleudert und prallte gegen die Wand. Seine Taschenlampe fiel zu Boden und erlosch. Jetzt war auch das letzte Quäntchen Licht aus dem Raum verschwunden.
Aber Sam konnte etwas hören. Es war ein ihm bekanntes Geräusch.
Das Kratzen von Metall gegen Metall. Es war ein dünnes, hartes Geräusch, und als Sam aufsah, konnte er tatsächlich ein paar Funken sprühen sehen. Das war nicht viel, aber es war genug, um einen Blick zu erhaschen. Für einen winzigen Augenblick hatte Sam die Spitze einer Stahlklinge in der bleichen Hand des Sammlers aufblitzen sehen.
„Habt ihr wirklich gedacht, ich lasse euch ungestraft über die Schwelle meines Hauses trampeln?“, grummelte die Stimme in der Dunkelheit. „Euch und eure schmutzige kleine Waffe?“
In diesem Moment brach ein starker Lichtstrahl von der Treppe her durch die Dunkelheit und erhellte den Raum.
„Wie kommst du nur darauf, dass das hier dein Haus ist, du Scheißkerl?“, fragte die Stimme von Tommy McClane.
Zweiundzwanzig
Die Gehirnerschütterung ließ Sam die steile Treppe, die aus dem Raum nach oben führte, nur verschwommen erkennen. Tommy thronte am Treppenabsatz und hatte seine Taschenlampe auf den Sammler gerichtet, während Nate neben ihm stand und seine eigene fest mit seinen kleinen Händen umklammert hielt. Keiner von beiden machte Anstalten, näher zu kommen.
Die sind schlau, dachte Sam benebelt. Wollen nichts hiervon abbekommen.
„Sam?“, fragte Tommy. „Dean? Geht’s Ihnen gut?“
Dean antwortete nicht, aber Sam setzte sich auf und sah ihn an.
„Gut würde ich nicht gerade sagen“, antwortete er. „Wollten Sie nicht nach Hause fahren, nachdem Sie uns abgesetzt hatten?“
„Heute ist doch der Tag, an dem man einen Freund in die Kirche einladen soll, oder?“, sagte Tommy und ließ keinen Moment die Augen von der fremden Gestalt. Sam konnte das Dämonenmesser jetzt ganz klar erkennen. Es blitzte in der Hand des Sammlers. „Geben Sie mir das Messer!“, sagte Tommy. „Und die Schlinge!“
Der Sammler machte ein kurzes, glucksendes Geräusch, das wohl ein Lachen sein sollte. „Wenn du es so sehr haben willst, warum kommst du nicht herunter und holst es dir?“
„Das müssen wir gar nicht.“
„Das dachte ich mir schon.“ Der Sammler schüttelte den Kopf. „Ihr habt keine Ahnung, mit was ihr es hier zu tun habt.“
„Ich denke, das werden wir noch sehen“, sagte Tommy und zuckte mit den Schultern. „Mach schon, Sohn!“
Nate stand immer noch in der Tür und griff in seine hintere Hosentasche. Er zog ein Stück gelbes Pergament hervor, faltete es flink auseinander und richtete die Taschenlampe darauf. Es sah sehr groß in seiner kleinen Hand aus.
Nate begann vorzulesen.
Die Beschwörungsformel war ein Gemisch aus Französisch, Latein und einer weiteren poetisch klingenden Sprache, die Sam nicht erkannte. Nates hohe Knabenstimme ließ die Worte fast so hell wie ein Lied klingen.
„Was ist das?“, fragte der Sammler.
„Ein Hoodoo-Bindungszauber.“
„Ich fühle mich geehrt“, sagte er. „Unglücklicherweise, solange ich ihn mit dem Klang meiner eigenen Stimme abwehren kann …“
Sam sah, wie sich Dean hinter der verhüllten Gestalt erhob. Er wuchtete den Reliquienschrein hoch über den Kopf und ließ ihn hinuntersausen. Man hörte einen deutlichen, harten Knall. Der Sammler taumelte vorwärts, und das Messer fiel ihm aus der Hand. Aus seinen Taschen ergoss sich klirrend eine riesige Ladung Silbermünzen.
„Dann wehre mal schön ab, du Mistkerl!“, grunzte Dean während Sam nach dem Dämonenmesser griff. „Mach schon, Sam!“
Sam brauchte keine Ermutigung. Er erhob das Messer und rammte es in die Brust des Sammlers. Judas’ Scherge schrie und schlug um sich, wurde aber nicht bewusstlos. „Der Klingelbeutel hat die Wahrheit gesagt“, sagte Dean. „Kein Dämon. Nun ja, ich glaube, das ist …“
Der Sammler richtete sich ruckartig wieder auf, sein Gesicht war ein einziger Ausdruck von Zorn und Gewalt. Er legte seine Finger um Sams Hals und hielt ihn auf Armeslänge, genau wie er es mit Dean getan hatte bei seinem Versuch, dessen Luftröhre zu zerquetschen.
Sam reagierte rein instinktiv. Seine rechte Hand schoss mit dem Dämonenmesser geradewegs nach oben und stieß hart und schnell zu. Der Stoß landete im Brustkorb des Sammlers, dort, wo Sam sein Herz vermutete – nur für den Fall, dass er eines besaß. Die Gestalt stieß einen erstickten, schwächer werdenden Schrei aus. Sam stach noch einmal zu und dann noch zweimal, bis der Sammler fiel. Die Gestalt schlug auf dem Boden auf und lag vollkommen still.
Keuchend und japsend trat Sam einige Schritte zurück, wobei er vorsichtig nach irgendwelchen Lebenszeichen an der Gestalt Ausschau hielt. Aber die schienen auszubleiben.
„Wo ist die Schlinge?“, fragte Tommy von der Tür aus. „Fassen Sie das Ding ja nicht mit bloßen Händen an!“
„Ja, das haben wir auch schon gemerkt.“ Sam gab Dean das Messer zurück. Dann beugte er sich herunter, riss ein Stück Stoff aus dem Umhang des Sammlers und wickelte es um die Hand wie einen Handschuh. Solcherart ordnungsgemäß geschützt hob er die Schlinge vom Boden auf – sie schien irgendwie schwerer zu sein, als sie eigentlich sein durfte – und warf Tommy einen Blick zu.
„Ich hoffe, Sie können uns von hier wegbringen. Ich will das hier nicht länger festhalten, als ich muss.“
Dreiundzwanzig
Es war fünf nach drei Uhr morgens, als Jacqueline Daniels in ihr Büro ging, das Licht anknipste und einen Mann neben ihrem Schreibtisch stehen sah. Er hatte dort im Dunkeln auf sie gewartet, und einen Augenblick lang war sie so überrascht, dass sie kein Wort herausbrachte.
„Sie?“, sagte Daniels.
Der Mann stand absolut regungslos da und sah sie aus seinen dunklen Augen eindringlich an. Der Trenchcoat, den er schon bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte, stand jetzt offen, und sie konnte sehen, dass er keine Waffe in der Hand oder am Körper trug. Das machte ihn irgendwie noch viel gefährlicher.
„Wie sind Sie hier hereingekommen?“
„Bitte setzen Sie sich!“
„Wer sind Sie?“
„Wir müssen uns unterhalten.“
Daniels spürte einen Adrenalinschub durch ihre Schläfen rauschen. Es fühlte sich an, als ob jemand kleine, heiße Münzen gegen beide Seiten des Kopfes drücken würde. Nach dem Unfall auf der Straße hatte sie den ganzen Tag mit der Suche nach den Winchesters verbracht. Das FBI hatte sie bei der Jagd unterstützt, und genau das hatte alles noch viel komplizierter gemacht.
„Wir müssen uns unterhalten“, wiederholte er.
„Sie sind verhaftet“, erklärte sie ihm. „Dieser Stunt heute auf dem Highway ist mehr als genug, um Sie hinter Schloss und Riegel zu bringen.“
Sie drehte sich um und wollte sich von ihm entfernen. Der Mann erhob eine Hand, und die Tür schlug direkt vor ihrer Nase zu.
„Setzen Sie sich jetzt bitte hin!“, wies er sie an.
Daniels drehte sich wieder zu ihm um. Sie gab es auf, ihm die knallharte Gesetzeshüterin vorzuspielen. Stattdessen zeigte sich jetzt etwas noch Härteres in ihren Zügen. Es war der Ausdruck von kalter, fast klinischer Distanz.
„Sie haben keine Ahnung, in was sie sich hier einmischen“, sagte sie entschieden.
„Mein Name ist Castiel.“
„Ist mir egal, wie Sie sich nennen.“ Sie ging zum Schreibtisch zurück, griff nach ihren Handschellen, und ein stechender Schmerz durchzuckte ihr Genick – eine Nachwirkung des Unfalls. „Glauben Sie, dass Sie hier so einfach in mein Büro spazieren und mich herumkommandieren können?“
„Das hier ist mächtiger als Sie.“
„Nichts in dieser Stadt ist mächtiger als ich.“ Sie wollte ihm Handschellen anlegen, doch er hielt ihren Arm fest. Mit einer schnellen, mühelosen Bewegung drehte er ihre Hand um, sodass die Tätowierung zu sehen war. Er berührte sie vorsichtig.
„Die Sigille wird Sie nicht beschützen.“
Ein Anflug von Zweifel flackerte über Daniels’ Gesicht und verschwand.
„Gefällt es Ihnen? Das habe ich mir beim Mardi Gras in den Frühjahrsferien vor zwölf Jahren machen lassen. Dumme Kinderei, ich weiß, aber …“
„Sie lügen mich an.“
„Und wenn schon? Warum sollte mir wichtig sein, was Sie von mir denken?“
„Wir haben nicht viel Zeit“, sagte Castiel. „Ich brauche Judas, den Zeugen. Wo ist er?“
Daniels schüttelte den Kopf.
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie sprechen.“
„Sie wissen von der Schlinge. Sie ist bereits zweimal verschwunden, seit sie in Ihrer Obhut ist.“ Seine Augen zuckten wieder zu dem Tattoo. „Ich kenne dieses Zeichen.“
Sie antwortete nicht.
„Sagen Sie mir, wo mein Zeuge ist“, verlangte er. „Ich werde nicht noch einmal fragen.“
Der Sheriff bewegte sich nicht und ließ Castiel seine Hand noch einen Augenblick festhalten. Das Santeria-Tattoo hing zwischen ihnen, wie eine kleine, aber entscheidende Lüge, die aufgeflogen war.
Dann, ganz unerwartet, lächelte sie und zog ihre Hand zurück.
„Sie können fragen, was Sie wollen, Castiel … oder wie auch immer Ihr Name ist. Stochern Sie in meinem Kopf herum! Machen Sie es sich bequem! Bleiben Sie die ganze Nacht!“ Das Lächeln verschwand. „Ich weiß gar nichts.“
Castiels Gesichtszüge verhärteten sich. Obwohl er sich nicht tatsächlich vorwärtsbewegte, schien er jetzt immer größer und imposanter zu werden, bis seine Präsenz Daniels’ gesamtes Blickfeld einnahm. Seine Stimme zitterte vor unverhohlener Wut.
„Ich bin ein Engel des Herrn“, rief er. „Meine bloße Anwesenheit hier hat mich wertvolle Zeit gekostet. Zeit, die unwiederbringlich verloren ist. Das hier ist wichtig.“
Daniels machte einen Schritt zurück, ihre Augen weiteten sich, und ihr vegetatives Nervensystem reagierte. Sie spürte, wie der Schweiß unter ihren Achseln zu perlen begann, und ihr Pulsschlag beschleunigte sich in ihrer Kehle, bis sie sein Pochen in ihrem Hals spüren konnte. Dann zwang sie sich zur Ruhe.
„Wenn Sie ein Engel wären“, sagte sie wie eine strenge Mutter zu einem unartigen Kind. „Dann würden Sie mir den richtigen Weg weisen, oder?“ Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldigung, aber das ist meine Stadt. Meine Leute waren schon lange hier, bevor Sie gekommen sind, und wir werden die Dinge hier in Ordnung halten, lange nachdem Sie wieder fort sind.“ Sie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wenn Sie dann mit Ihren Fragen fertig sind, würde ich gerne nach Hause gehen und ein Aspirin einwerfen. Irgendein Dumpfbeutel hat mich heute dazu gebracht, mein Auto zu Schrott zu fahren, und ich habe höllische Kopfschmerzen.“
Castiel streckte fast gedankenlos die Hand aus und strich über ihre Stirn.
„Das wird noch viel schlimmer.“
Sheriff Daniels öffnete den Mund, um zu antworten, und klappte ihn dann wieder zu. Ihr Bewusstsein wurde mit Bildern und Gefühlen überflutet – blendendes Licht und bedrohliche Dunkelheit, gerechter Zorn, der über die Schlachtfelder der Geschichte zog, und Gnade, göttliche Gnade.
„Ich werde nicht noch einmal fragen“, sagte Castiel. „Wo ist die Schlinge?“
Nun zweifelte Daniels nicht mehr. Vollkommen unwillkürlich war sie auf die Knie gefallen, und ihre Stimme, die jetzt nicht mutig klang – nicht mehr, nicht den kleinsten Hauch –, spie die Worte ohne den geringsten Zweifel aus.
„Die Kirche. Sie ist im Keller der Kirche“, sagte sie.
Als die überwältigenden Gefühle endlich verblasst waren, um Daniels mit der Mutter aller Migränen zurückzulassen, war Castiel längst fort. Sheriff Jacqueline Daniels raffte sich auf und schleppte sich den Rest des Weges zu ihrem Schreibtisch, wo sie sich in den Schreibtischstuhl fallen ließ und ihr Gesicht unter den Händen begrub. Sie wagte nicht einmal daran zu denken, was sie getan hatte.