„Doch“, sagte er. „Das weiß ich.“
„Geben Sie mir doch bitte eine Chance!“
Das ist eine Falle. Und wenn du darauf reinfällst, bist du ein noch größerer Idiot, als ich dachte.
Trotzdem …
Sam zögerte. Das Gewehr fühlte sich plötzlich sehr schwer in seinen Händen an. Er senkte den Lauf … und der Nate-Dämon stürzte sich auf ihn. Sam riss die Waffe sofort wieder hoch und zog am Abzug. Der Lauf röhrte und blies einen Sturm von Salz aus der Mündung, die den Dämon zu Boden riss. Eine kindsgroße Wolke quirligen schwarzen Rauches stieg kreischend über Nate auf, und irgendwo zu Sams Linken begann Tommy McClane zu schreien. Obszönitäten sprudelten aus ihm heraus, Flüche in einem halben Dutzend Sprachen. Sam wartete die Übersetzung gar nicht erst ab. Stattdessen quetschte er sich durch die zerbrochene Heckscheibe und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Der Zündschlüssel steckte noch. Sam riss den Schlüssel herum, warf den Rückwärtsgang ein, schlug das Lenkrad ein und trat das Gaspedal durch. Der Pick-up wendete. Sam sah Tommy McClane direkt im Scheinwerferlicht vor sich.
Aber Dean war verschwunden.
Das Wesen, das sich Tommy McClane nannte, stand im Scheinwerferlicht des Pick-ups, der auf ihn zuraste. Es stand wie festgenagelt und wich keinen Zentimeter zur Seite. Tommy hatte die Schlinge mit der letzten, noch unzerschnittenen Windung irgendwo verloren. Der Plan hatte eigentlich anders ausgesehen. Die Winchesters mitten in einer laufenden Schlacht zu erschießen, bevor das eigentliche Ziel erreicht war, gehörte jedenfalls nicht dazu. Aber es war auch nicht Teil des Plans gewesen, mit anzusehen, wie der eigene Sohn von einer Schrotflinte mit einer Ladung Salz durchlöchert wurde. Als der Dämon das mit angesehen hatte … Oh, als er das gesehen hatte …
McClanes Kiefer spannte sich an. Rasende Wut presste sich in sein Herz wie die glühende Oberfläche eines Brandeisens. Er konnte nicht mehr klar denken. Er sah sich um und suchte irgendetwas, was sich als Wurfgeschoss eignete. Er fand nur einen hölzernen Zaunpfahl, der irgendwo herausgerissen worden war. McClane schleuderte ihn mit aller Kraft gegen das Auto. Das Glas riss beim Aufprall, und aus Reflex duckte Sam Winchester sich. Aber gleich darauf saß er wieder aufrecht hinter dem Steuer. McClane konnte Sams Gesicht durch die gesprungene Windschutzscheibe erkennen. Es war ein Spiegelbild seiner eigenen Wut. In letzter Sekunde hechtete er aus dem Weg und ließ den Pick-up an sich vorbeidonnern.
Sam riss das Steuer herum und wendete den Wagen. Er konnte Dean nirgendwo sehen, und ihm lief die Zeit davon. Von der Spitze des Hügels aus schossen die Haubitzen alles in Stücke, was noch von der Nacht übrig geblieben war. Der Ansturm war so heftig, dass man Kanonendonner und Echo nicht mehr auseinanderhalten konnte. Im Osten schauderte das Glühen der Morgendämmerung am Horizont entlang. Tief und rot sickerte es langsam durch die Bäume, als ob die Kanonen den Himmel selbst blutig geschossen hätten.
Sam lenkte den Pick-up wieder in eine andere Richtung und fuhr jetzt auf das Schlachtfeld, die Zelte und Bäume zu. Weit zu seiner Linken sah er aus dem Augenwinkel die Bürgerkriegsdampflok vor dem alten Eisenbahnschuppen. Zwischen den einzelnen Explosionen hörte er Schreie, die die Motorengeräusche des Pick-ups übertönten.
Sam sah zu den Uniformierten hinüber, die den Hügel herabstürmten. Einige trugen Blau, andere Grau. Als ob sich irgendeine alte Prophezeiung erfüllte, rannten die beiden Kriegsparteien gemeinsam den Abhang hinunter.
Und siehe! Der Yankee wird Seit an Seit mit dem Rebellen kämpfen!
Alle trugen echt aussehende Bürgerkriegswaffen. Obwohl Sam Winchester das aus der Entfernung und in diesem nebligen, rauchverhüllten Dämmerlicht nicht genau erkennen konnte, beschlich ihn das Gefühl, dass jeder Einzelne der Soldaten die gleichen onyxschwarzen Augen hatte.
Sam fiel ein, was McClane gesagt hatte.
„Meine Brüder.“
Dean, dachte er bekümmert, wo bist du?
Vor ihm waren die Männer bereits aus den Zelten gekommen. Rollenspieler – die, deren Körper nicht von Dämonen besessen worden waren – standen dort in ihren altmodischen langen Unterhosen und starrten die Welle der Uniformierten an, die den Hügel hinabrollte. Die Scheinwerfer des Pick-ups streiften ihre Gesichter, in die der schiere Unglaube jener geschrieben stand, die gerade aus einem Albtraum erwacht waren und merkten, dass er ihnen in die Realität gefolgt war.
Ein weiterer Artillerieblitz war oben auf dem Hügel zu sehen, und der Donner folgte sofort. Die langen Schatten der Angreifer flackerten über das Gras vorwärts wie die Finger einer unvorstellbar großen, breiten Klaue.
„Achtung!“ Sam schlug auf die Hupe des Pick-ups und hielt sie gedrückt. Ihr nasales Quäken war im Gegensatz zu den Schlachtgeräuschen geradezu absurd leise. „Seht zu, dass Ihr hier wegkommt! Lauft!“
Der Pick-up fuhr über eine Bodenwelle, wurde brutal hochgeschleudert und kam mit einem harten, stoßdämpfermordenden Krachen wieder auf dem Boden auf. Sam konnte die Zelte, die Männer und die Bäume, den Fluss und den Hügel dahinter nun besser sehen, aber sein Bruder war nicht zu erkennen, nirgendwo, und wenn er ihn nicht schnell wiederfand …
Eine Gestalt brach aus einem Gehölz hervor und rannte gut fünf Meter voraus durch den Scheinwerferkegel des Pick-ups. Sam hatte gerade genug Zeit, sie zu erkennen. Ihr Name segelte kurz durch seine Gedanken – Sarah Rafferty –, als eine der größeren Haubitzenladungen den Pick-up frontal erwischte, zur Seite fegte und mitsamt Sam Winchester durch die Luft wirbelte. Der Pick-up schlug auf dem Boden auf, wurde auseinandergerissen und ging in Flammen auf.
Es war Punkt fünf Uhr morgens.
Achtundzwanzig
Steh auf!
Es war die Stimme seines Vaters. Dean hätte sie überall erkannt. Selbst wenn sein alter Herr nicht direkt vor ihm gestanden und auf ihn heruntergeblickt hätte. Er wirkte in höchstem Maße unbeeindruckt von der Kette der Ereignisse, die ihn an diesen Punkt gebracht hatte.
Ich kann nicht, Dad. Ein Mischmasch aus inkohärenten Eindrücken und Antworten tummelte sich unproduktiv in Deans Bewusstsein. Bin angeschossen. Mistkerl hat auf mich geschossen. Du hast’s doch gesehen.
Was ich sah, war, wie ein Mann von seiner eigenen Dummheit vor den Kopf geschlagen wurde, antwortete John Winchester mitleidlos. Ich sah einen Mann, der – angesichts der Umstände und der schieren Größe seiner Torheit – von Glück sprechen kann, dass er nicht tot ist.
Dad, wieso redest du wie Abraham Lincoln?, dachte Dean. Dann sah er, dass sein Vater tatsächlich wie Lincoln gekleidet war, mit Bart und hohem Zylinder. Trotz der schneidenden, weißglühenden Schmerzen in seiner Brust und seiner rechten Schulter, fand er diesen Gedanken schreiend komisch. Hier lag er nun zusammengerollt in einer Ecke des Parkplatzes und versuchte die Blutung zu stillen, die die Schrotladung aus der Bürgerkriegsmuskete verursacht hatte. Und kein Geringerer als der große Befreier der Sklaven persönlich ragte ebenso lebensecht über ihm auf, wie er in Phil Wagners Wachsfigurenkabinett zu sehen war.
Dad …?
Dean streckte einen Arm nach oben.
Er kämpfte sich auf die Beine.
Seine Hand berührte kaltes Metall.
Lincoln, sein Vater, war eine Statue. Nicht die Spur eines Menschen. Ein Abbild aus Bronze. Rau und hart. Sie stand auf einem Betonsockel, den Blick auf das Schlachtfeld gerichtet. Ein Arm zeigte nach Norden, als würde er Mission’s Ridge auf die Ursache seiner unvermeidlichen Niederlage hinweisen. Dean spürte, wie ihm die Welt aus ihren gut geschmierten Angeln glitt und er das Gleichgewicht verlor. Er klammerte sich an die Statue und nutzte den Arm des „ehrlichen Abe“, um sich abzustützen.