Dann löste sich der Engel in Luft auf.
Seufzend steckte Dean das Messer zurück in seinen Gürtel und ging wieder zu McClane und dem Sheriff zurück. Sie blickte ihn überrascht an.
„Meinung geändert?“
„Ich will nicht darüber reden.“ Er ging neben McClane in die Hocke und benutzte seinen unverletzten Arm, um Oberkörper und Schultern des Dämons flach auf den Asphalt zu drücken. Sheriff Daniels beugte sich über McClanes weit geöffnetes Auge. Sie war Dean so nahe, dass er ihr Shampoo riechen konnte. Dann winkelte sie ihre Hand an und presste ihr Tattoo direkt gegen McClanes Augapfel. Dean hörte ein schwaches Zischen, wie von einem Brandeisen, das sich in die Haut eines Pferdes brennt. McClane schrie und schlug mit den Armen.
„ Wo ist sie?“, brüllte Daniels den Dämon durch seine Schreie hindurch an. „Wo ist die siebte Windung?“
Sie drückte ihre Hand noch eine weitere Sekunde auf sein Auge und zog sie dann weg. Unter ihr keuchte und wütete McClane. Als der Dämon ihn ansah, konnte Dean den schwachen Abdruck der Tätowierung sehen, die sich in die glasige Oberfläche seines schwarzen Augapfels gebrannt hatte. Es sah aus wie eine winzige, komplizierte Blaupause. McClane rannen rötlich schwarze Tränen aus den Augenwinkeln.
„… verloren …“, stieß er mühsam hervor. „… hab sie irgendwo fallen lassen …“ Er brachte ein weiteres Grinsen zustande, dem ein mühsames, wässriges Lachen folgte. „Aber egal … du hast verloren … blöde Kuh!“
Er saugte seine Wangen nach innen, und irgendwo aus den Tiefen seines Halses kam ein rasselndes Geräusch.
„Passen Sie auf!“, sagte Dean. „Ich glaube, er will …“
Der Dämon spuckte einen dicken Pfropfen schleimiges Blut – direkt ins Gesicht des Sheriffs. Daniels zuckte nicht einmal zusammen und wischte sich einfach nur die Spucke von der Wange. Dabei änderte sich ihr Gesichtsausdruck kein bisschen. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme kalt wie Eis.
„Das war’s“, sagte sie. „Jetzt brenne ich dir die Augen aus dem Schädel.“
Sie hörten ein lautes Wiehern in der Nähe, Hufe, die auf Metall schlugen, und Dean blickte auf. Zwei schwarzäugige konföderierte Dämonen trieben ihre Pferde über die Dächer der Streifenwagen. Einer trug eine brennende Rebellenfahne in der Hand. Als er Dean und den Sheriff sah, winkelte er den Arm mit der Fahnenstange an, und schleuderte sie wie einen Speer in Richtung von Sheriff Daniels. Dean sprang auf, schnappte Daniels und warf sie rücklings auf den Boden – Augenblicke, bevor die Fahnenstange genau dort in den Asphalt einschlug, wo der Sheriff eben noch gehockt hatte.
Daniels blickte Dean überrascht und völlig geschockt an. An der Seite ihrer Nase klebte immer noch verschmiertes Dämonenblut.
„Idiot!“
„Gern geschehen“, antwortete Dean.
Der Sheriff zeigte auf die Blutlache, die an der Stelle war, wo McClane gelegen hatte.
„Er ist abgehauen.“
„Sie schulden mir immer noch eine mordsmäßige Erklärung.“
Daniels war kurz vor dem Überkochen.
„Sie auch. Gehen Sie endlich runter von mir!“
Weiteres Hufgeklapper erfüllte die Luft, und beide blickten sich um. Die nächste Welle Dämonen brandete über den Parkplatz.
„Wir haben keine Zeit“, sagte Dean und quälte sich auf die Beine. Er schaute sich den nächstbesten Streifenwagen an. Sein Dach war teilweise verbeult, Scheinwerfer und Windschutzscheibe demoliert, aber die Lautsprecher auf beiden Seiten sahen unbeschädigt aus.
Er ging auf das Auto zu, öffnete die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz.
„Warten Sie!“, rief Daniels. „Was machen Sie denn da?“
„Ich habe eine Idee.“
„Sie können nicht abhauen.“
„Ich will nirgendwohin“, sagte Dean. „Aber mein linker Arm ist verwundet. Sie werden mir beim Steuern helfen müssen.“
Zweiunddreißig
Sechs Uhr fünfzehn morgens. Während der Rest der Ostküste gerade aufwachte, sich die erste Tasse Kaffee einschenkte und die Nachrichten einschaltete oder sich im Internet die ersten Updates zu einem Ereignis holte, das später als die merkwürdigste Attacke in der jüngeren Geschichte in die Bücher eingehen würde, passierten auch noch andere Dinge. Es waren weniger als zwei Stunden vergangen, seit Tommy McClane die Schlinge aufgeschnitten und seine Armeen der Nacht auf Mission’s Ridge losgelassen hatte. Aber in einem Zeitalter moderner Wunder, in dem die Warnstufe des Heimatschutzministeriums für die nationale Gefahrenlage mehr oder weniger permanent auf Orange stand, waren zwei Stunden eine Menge Zeit.
Die Nachricht hatte sich verbreitet. Die Alarmglocken hatten geschrillt. Beamte waren aus den Betten geholt und instruiert worden. Und gewisse Bundesbehörden hatten mit dem angemessenen Grad von Engagement und Enthusiasmus reagiert.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte das Ministerium für Heimatschutz die Gründung mehrerer regionaler, streng geheimer Einsatztruppen autorisiert. Das waren Armeen im Bereitschaftszustand, die mit den neuesten Waffen ausgerüstet waren und sowohl über Boden- als auch über Luftunterstützung verfügten. Anders als die Nationalgarde trainierten sie nur für einen einzigen Ernstfall – den eines massiven Terrorangriffs auf amerikanischem Boden. Als sich die Karte über Mission’s Ridge, Georgia, rot färbte, genau um sechs Uhr an diesem Morgen, waren sie in Bereitschaft und wurden sofort mobilisiert.
Als der erste schwarze Helikopter über ihre Köpfe brummte, rannten Sam und Sarah gerade, so schnell sie konnten, über das Schlachtfeld, in jeder Hand die Tragestange einer Bahre. Sam beachtete den Helikopter nicht weiter. Dafür war er in diesem Moment viel zu beschäftigt. Der Größenunterschied zwischen ihm und Sarah machte es schon schwer genug, die Bahre zu tragen, aber deren Gewicht machte es beinahe unmöglich. Auf der Trage lagen zwei verletzte Rollenspieler aus dem Zelt, von denen einer so aussah, als würde er den Ausflug nicht überleben. Ashgrove und ein weiterer Rollenspieler namens Bendis rannten hinter ihnen her und trugen eine weitere Bahre mit zwei Verletzten.
Den Rest würden sie später holen müssen – wenn sie noch die Gelegenheit dazu bekamen.
„Hier lang“, schrie Sarah. „Passt auf die Bahnschienen auf!“ Im Krebsgang kletterten sie und Sam über die Eisenbahnschienen, stiegen über schwere, hölzerne Bahnschwellen hinter dem aus Dampflok, Kohlenwagen und Flachwagen bestehenden Zug aus dem neunzehnten Jahrhundert. Dahinter stand der Eisenbahnschuppen an der westlichsten Ecke des mit dichtem Unterholz bewachsenen Waldes, der die äußere Begrenzung des Schlachtfelds markierte.
Der Helikopter wendete über dem Wald und vollendete damit seinen Rundflug über das Gelände.
Sam lief rückwärts auf den Eisenbahnschuppen zu, holte mit dem Knie aus und trat die schwere Holztür ein. Sie flog weit auf. Sarah und er duckten sich hinein. In den Schatten roch es nach Kohle und Öl und uraltem Eisen.
„Das Dach ist aus verstärktem Stahl“, sagte Sarah. „Das war in den Konföderierten Staaten von Amerika üblich, um die Züge zu schützen. Ich dachte, hier wären wir sicherer.“
„Gut“, nickte Sam und zuckte etwas zusammen, als sie die Bahre ablegten.
„Wie geht’s Ihnen?“, fragte sie.
„Mein Knöchel … er kommt schon in Ordnung.“
Ashgrove und Bendis kamen bereits mit ihren Verwundeten durch die Tür und legten die Trage so sanft wie möglich ab.
„Was ist mit den anderen?“, fragte Bendis.
„Ich kann versuchen, noch einmal zurückzugehen“, sagte Sam. Über ihnen zog der Helikopter eine weitere Runde im Tiefflug. Das Brummen der Rotoren übertönte für einen Moment alles andere.
„Habt ihr das Ding gesehen?“, fragte Bendis weiter. „Wer ist das?“
„Wer immer das ist“, sagte Sarah, „ist nicht hier, um uns zu helfen.“