„Du hältst dich besser fest.“
„Was? Warum …“
Ohne sich zu einer Antwort herabzulassen, schob Sam die Hälfte der blutbefleckten Lumpen in die leere Feuerbüchse, schlug die Metallklappe zu und trat zurück.
Nichts passierte.
Sam und Dean standen einen Moment schweigend da und sahen auf die Klappe.
„Ich fand, als Doug Henning den Trick vorgeführt hat, hat er besser funktioniert“, sagte Dean beiläufig.
„Warte mal!“ Sam bückte sich und spähte durch Schlitze in der Klappe. Er konnte sehen, dass die Lumpen auf einem Haufen lagen. Dort schien sich nichts verändert zu haben. Er zog die Feuerklappe wieder auf, nahm das lange Schüreisen, das am Kessel lehnte, und steckte es hinein. Vorsichtig, Stück für Stück, schob Sam es auf den Haufen mit den blutigen Stofffetzen zu. Er stieß sie vorsichtig an, wie ein Kind, das eine schlafende Schlange mit einem Stock neckt.
„Das verstehe ich nicht.“ Sam stocherte jetzt kräftiger, und die Spitze des Eisens kratzte Funken sprühend über den Metallboden. „Vielleicht ist es zu wenig Bl…“
Die Lumpen explodierten.
Es war, als ob eine Rakete in einem Pulverfass explodierte. Flammen schossen in einem dicken blauen Lichtstrahl aus der Feuerklappe, direkt auf Sams Gesicht zu. Er warf sich im letzten Augenblick zur Seite. Das Schüreisen glitt ihm aus der Hand und fiel scheppernd zu Boden. Für eine schwindelerregende Sekunde verlor Sam das Gleichgewicht und fiel fast aus dem Führerstand.
Dean schnappte ihn am Kragen und zog ihn weg.
„Schließ die Tür!“, schrie Sam. „Mach sie zu!“
Dean griff nach dem Schüreisen, rammte es gezielt vorwärts gegen die Klappe und schlug sie zu. Blaue Flammen spuckten und flackerten begierig wie Schlangenzungen durch die Ritzen der Feuerklappe.
Die Führerstand der Lok erbebte, und ein heftiges Scheppern ertönte. Dean konnte hören, wie das alte Eisen um ihn herum zu arbeiten begann. Die Luft füllte sich mit beißendem Rauch, Dampf quietschte durch die Rohre der Maschine, und die Ventile ächzten unter längst vergessenem Druck. Auf den Instrumenten vor Dean und Sam fingen die Nadeln an sich zu bewegen, sie zuckten und schossen schnell in optimistischen Sprüngen nach oben.
Aus den Nähten des Kessels sah Dean ein kleines Wölkchen aus Wasserdampf aufsteigen. Er fasste ein Rohr an, spürte, wie es immer heißer wurde, und ließ erst los, als er es nicht mehr aushielt. Er beugte sich aus der Tür. Eine der Frauen – Dean glaubte, dass es Sheriff Daniels war – rief ihm vom Flachwagen aus etwas zu.
„Was ist los? Funktioniert es?“
Bevor er ihr antworten konnte, machte die Lok einen Satz nach vorne.
Im Juli 1938 hatte eine Lokomotive namens Mallard den Geschwindigkeitsrekord für Dampffahrzeuge an Land bei einer Fahrt auf der East Coast Main Line vom Bahnhof King’s Cross in London aufgestellt. Die Offiziellen stoppten sie mit einhundertsechsundzwanzig Meilen pro Stunde, bevor die Lager überhitzten und der Maschinist die Geschwindigkeit verringern mussten. „Noch ein bisschen schneller, Freunde“, soll er zu seinem Heizer gesagt haben, „dann landen wir direkt im Schoß des Allmächtigen.“
Als die Winchesters die Außenbezirke von Mission’s Ridge auf sich zukommen sahen, fuhren sie relativ schnell – wahrscheinlich nur achtzig Meilen, obwohl es sich im Lokführerstand wie über hundert anfühlte. Dean hatte den Hebel auf volle Kraft gestellt. Die Pfeife stieß ein stetiges Signal aus. Das zweite Stellventil war ein sogenannter Johnson-Hebel. Einen halben Kilometer vor der Innenstadt hatte Dean auch den Johnson auf volle Leistung gestellt.
Sie würden in wenigen Minuten da sein.
Rauch spuckend und mit stampfenden Kolben schoss der Zug wie eine Rakete auf den Schienen entlang. Eigentlich war es unmöglich, sich diesen Zug nicht als ein Lebewesen vorzustellen. Dean hielt den Regler ständig auf Maximum fest, während die letzten Ausläufer der Wälder an ihnen vorbeiflirrten, um Wohnhäusern und Farmgebäuden Platz zu machen.
„Dean!“
Sam stand im Führerstand, seine Augen tränten vom Fahrtwind, und er musste brüllen, damit Dean ihn hören konnte.
„Wir müssen anhalten!“
„Was?“
„Anhalten!“
„Das ist doch verrückt! Es …“
Doch dann sah Dean, warum. Ziemlich weit vor ihnen, dort, wo die ersten Schaufenster und Läden den eigentlichen Ortseingang von Mission’s Ridge anzeigten, lagen Körper auf den Bahngleisen. Und einige von ihnen schienen noch am Leben zu sein.
McClane war die Idee in letzter Minute gekommen, als er gesehen hatte, wie sein Dämonenbruder den armen Teufel vor der Videothek mit einem Säbel an die Wand genagelt hatte. Als er das Pfeifen der Lokomotive hörte, wurde ihm sofort klar, wie die Winchesters die Schlinge zurück in die Kirche bringen wollten. Er war mitten auf der Main Street in die Knie gegangen und hatte eine Hand auf die Gleise gelegt. Er hatte bereits spüren können, wie sie vibrierten.
„Schnell!“, hatte er gesagt. „Holt mir ein paar Kinder!“
Sie waren auf die Schienen gefesselt. Dean konnte ihre Gesichter bereits aus Hunderten von Metern Entfernung erkennen, obwohl sein Hirn sich einen Moment lang weigerte, es zu akzeptieren. Vorne lag ein kleines blondes Mädchen in einem blauen Kleid und weißen Kniestrümpfen. Ihr Gesicht war weiß wie Porzellan, und aus ihren Zügen sprach die blanke Angst.
Ungefähr ein Dutzend anderer Kinder lagen an Armen und Beinen gefesselt hinter ihr. Alle blickten den Zug an und schrien. Dean blieb fast das Herz stehen. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf – Wo sind ihre Eltern? –, aber die Antwort kannte er schon. Sie verschaffte sich stampfend wie die Räder der Lok Einlass in seinen Kopf.
Besessen. Oder schlimmer.
Tot. Tot. Tot.
Dean griff nach der Druckluftbremse und zog, so fest er konnte. Das Metall kreischte gequält auf. Die Maschine rumpelte vorwärts, weil die Kupplungen der Waggons zusammenstießen. Kolben rauchten, eiserne Räder wetzten auf den Schienen und schleuderten ganze Funkenschwärme in alle Richtungen. Trotzdem donnerte die Lok als Gefangene ihres eigenen Schwungs weiter vorwärts.
„Wir schaffen es nicht“, schrie Sam.
Der Zug kratzte weiter auf den Schienen vorwärts, die Bremsklötze fauchten, während die Lokomotive unaufhaltsam und ohne ausreichende Reibung zum Bremsen die Main Street entlangschlitterte. Sie wurden langsamer – zuerst zwanzig, dann fünfzehn Meilen die Stunde –, aber es dauerte einfach zu lange. Dean stand an der Bremse. Er presste seinen Mund in vollkommener Konzentration zusammen, ganz so, als ob er versuchte, die Fahrt irgendwie durch pure Willenskraft zu beenden.
Sam sprang.
Dean hatte nicht einmal gemerkt, was Sam getan hatte, bis er seinen Bruder rennen sah. Er rannte nicht nur. Dean sah etwas in Sams Hand aufblitzen. Es sah aus wie eine Zange. Sam lief damit an den Schienen entlang vor der Lok her. Er erreichte das blonde Mädchen, beugte sich zu ihm herunter und begann die Seile durchzuschneiden. Er schnitt, so schnell er konnte. Als das Mädchen frei war, sprang es mit tränenerfüllten Augen auf, und Sam wandte sich dem nächsten Kind zu. Es war ein fünfjähriger Junge in einem zerrissenen T-Shirt und schmutzigen roten Shorts. Sam konnte den Arm des Jungen befreien, aber seine Beine waren vom Schweiß und der Schmiere auf den Schienen schlüpfrig, und er wollte einfach nicht stillhalten. Schließlich schaffte Sam es doch, und der Junge kroch zur Seite.
Er machte beim nächsten weiter, konnte aber hinter sich bereits spüren, wie der Zug herandonnerte. Die Lok erschütterte die Schienen nicht nur, sie schien sie mit Vibrationen von unvorstellbarer Kraft und Gewalt regelrecht zum Leben zu erwecken.
Sam sah die anderen Kinder an. Es waren so viele – viel zu viele –, mindestens noch zehn, und jedes einzelne war fest an seinen Platz gefesselt.