Sie starrten ihn an.
Der Schatten des Zuges fiel bereits auf sie, und Sam Winchester wurde klar, dass er nicht alle retten konnte. Er drehte sich um, um nachzusehen. Der Zug kam immer noch auf sie zu.
Noch fünfzehn Meter.
Noch zehn.
Fünf.
Er stand völlig paralysiert da, wie angewurzelt. Das Schicksal schien mit dem Finger direkt auf ihn zu zeigen. Für einen Moment dachte er daran, sich selbst auf die Schienen zu werfen, in der unbegründeten Hoffnung, mit seinem Körper das letzte entscheidende Hindernis zu schaffen. Vielleicht konnte er so das letzte Kind in der Reihe retten. Vielleicht würde …
Er schloss die Augen.
Mit einem letzten Kratzen und Kreischen hielt die Maschine an.
Sam blickte wieder nach oben. Die Lok hatte weniger als einen Meter vor ihm gestoppt. Er hätte die Hand ausstrecken können, um den Kuhfänger zu berühren.
„Sam!“, rief Dean aus dem Lokführerstand. „Mach diese Kinder los! Wir sind …“
Da ertönten aus den oberen Fenstern in der Main Street bereits die ersten Schüsse. Sam stand jetzt voll unter Adrenalin und arbeitete schnell. Seine Hände bewegten sich mit nahezu übermenschlicher Geschwindigkeit. Zwei der Kinder waren verletzt, eines hatte sich an seiner Schneidezange verletzt, das andere war von einer Kugel ins Bein getroffen worden.
Dann merkte Sam, dass Dean neben ihm war und ihm mit dem Dämonenmesser half, die Seile mit schnellen, gezielten Schnitten zu durchtrennen. Er machte die Kinder los und schob sie in offene Türen auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Sie konnten Splitter aus Asphalt und Beton gegen sich spritzen fühlen, als die Musketen feuerten. Sam musste gar nicht hinsehen, um zu wissen, was passierte.
Dämonen schossen von beiden Seiten auf sie herunter und ließen einen Hagelsturm aus Schrot über das Pflaster peitschen.
Sie zielen um mich herum, dachte Sam. Sie wollen trotz allem das Gefäß nicht beschädigen.
Als er seinen Kopf wieder hob, sah Sam, wie die letzten der Kinder sich gerade in ein Restaurant namens Whotta Lotta Pizza flüchteten. Zehn Sekunden später zersprang die Fensterfront der Pizzeria unter schwerem Gefechtsfeuer in Millionen Splitter. Sam hoffte – betete –, dass die Kinder schlau genug gewesen waren, in Deckung zu gehen.
Sam, völlig ohne Deckung und von Kugeln mehr oder weniger eingerahmt, warf Dean einen Blick zu. Nun konnte er auch die Soldaten erkennen. Ihm wurde klar, dass die erste Salve eher spielerisch gemeint war und ihnen Angst einjagen sollte. Jetzt war das Spiel vorbei. Die Dämonen duckten sich hinter den Fenstern oder lauerten auf den Dächern, sodass der Vergleich mit Der Mann, der niemals aufgibt gar nicht mehr so weit hergeholt schien. Es passierte wirklich, und Sam und Dean waren mittendrin.
Wir sind mausetot, dachte Sam. Zumindest Dean ist es.
Plötzlich hörten sie vom Flachwagen am Ende des Zuges ein neues Geräusch, ein lautes, mechanisches Rattern. Eine Salve von Schüssen ertönte, als ob gerade jemand das Feuer mit einem Maschinengewehr eröffnet hätte.
Was zur …
Bevor Sam verstand, was da passierte, begannen die Dämonen zu fallen. Oben auf den Dächern wurden ihre Körper in alle Richtungen gewirbelt und tanzten im Kugelhagel zuckend einen bizarren Tanz, um schließlich zu erschlaffen und wie Steine auf die Erde zu stürzen. Sam kamen sie beinahe wie Rollenspieler aus der Hölle vor, die den berühmten Sturz ihres eigenen Lichtbringers nachspielten. Er drehte sich nach dem Flachwagen um. Sheriff Daniels stand hinter dem Gatling-Geschütz aus dem Bürgerkrieg und drehte die Kurbel mit wütender Konzentration. Die rauchende Trommel rotierte gleichmäßig und spuckte einen wahren Feuersturm aus. Die eisernen Schäfte der Gatling glänzten dort rot, wo sie mit den blutigen Lumpen abgewischt worden waren.
Daniels drehte die Kurbel jetzt schneller. Sarah Rafferty stand hinter ihr und half, den Geschützturm zu bewegen, damit sie die Dächer rundum mit Feuer bestreichen konnte. Daniels sah, dass Sam sie anstarrte, nahm eine Hand von der Waffe und schwenkte sie in der Luft vor und zurück.
„Bewegt euch!“, brüllte sie. „Lauft!“
Achtunddreißig
Dean ließ sich nicht länger bitten und sprang zurück in die Lok. Er löste die Druckluftbremse und sah nur im Augenwinkel, dass Sam hinter ihm auf den Lokführerstand kletterte, während er den Gashebel mit beiden Händen ergriff. Er drückte ihn, so weit es ging, nach unten. Der Zug machte einen Satz vorwärts. Kugeln hagelten auf die Lok und prasselten als ein beständiger Bleiregen aufs Dach.
Genau vor ihnen, ungefähr vier Blocks entfernt, sah Dean die Kirche. Ihr weißer Turm ragte in den blauen Morgenhimmel wie eine Verkündigung von höchster Stelle.
„Los!“, rief Sam.
Ein Querschläger zischte heulend an Deans Ohr vorbei, nahe genug, dass er den Luftzug spürte. Er duckte sich etwas zu spät und zog ein grimmiges Gesicht. Die nächste Kugel könnte ihm auch ganz einfach den Kopf wegpusten, das wusste er.
Die Maschine nahm immer noch Fahrt auf. Zu Fuß wären sie schneller gewesen.
Das hätten wir nie geschafft.
Vor ihnen stand eine ganze Phalanx aus Dämonen auf den Schienen und feuerte auf die Lok, während die sich auf sie zubewegte. Sheriff Daniels drehte die Gatling herum und mähte sie nieder. Eine Sekunde später donnerte die Lok über ihre Körper und spuckte unter ihren Rädern Fleischbrocken und Uniformfetzen aus.
Dean sah es nicht einmal. Er hatte seine Augen fest auf die Kirche gerichtet, auf die Treppe, die Eingangstür.
Noch zwei Blocks.
Sie kamen näher.
Mach dich bereit!
„Sam!“, schrie er.
Als Dean erneut die Bremse zog, war sein Bruder bereits durch den Kohlenwagen unterwegs in Richtung Flachwagen.
„Nimm den Sheriff mit!“, brüllte Sam zurück. „Ich bleibe hier und halte sie so lange wie …“
Der Rest des Satzes blieb Sam in der Kehle stecken, als seine Füße gegen etwas Weiches stießen. Als er auf die Leiche auf dem Boden des Kohlenwagens starrte, überkam ihn das Gefühl, dass sich ein riesiges Loch in seiner Magengrube auftat, es war, als würde er plötzlich ins Bodenlose fallen.
Der Körper von Sarah Rafferty lag bewegungslos zu seinen Füßen, ihre nach oben verdrehten Augen waren glasig. Eine Kugel hatte sie in die Brust getroffen und einen kleinen roten Fleck auf der Bluse zwischen ihren Brüsten hinterlassen. Er war nicht größer als ein Silberdollar. Der Fleck unter ihrem Körper war viel größer. Sam merkte erst jetzt, dass er mitten in einer Blutlache stand.
„Oh nein …“ Dean schüttelte den Kopf. „Ist sie …?“
Sam sah seinen Bruder an. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Als er endlich ein Wort herausbrachte, klang seine Stimme so, als ob sie nicht ihm gehörte.
„Geh!“ Er stieg über Sarah Raffertys Leiche hinweg, ging zum Gatling-Geschütz und berührte Sheriff Daniels am Arm. „Sie haben die letzte Windung der Schlinge?“
Sie hielt sie hoch.
„Hier ist sie.“
„Gehen Sie mit Dean!“
Daniels trat zurück, und Sam nahm ihren Platz ein. Er griff nach der blutbeschmierten, glitschigen Kurbel der Waffe und drehte sie schnell. Aus dem Augenwinkel sah er Daniels und Dean vom Zug abspringen und zwischen den Säulen vor der Kirche entlanghasten. Dann rannten sie die Stufen hinauf. Zwei Dämonen sprangen hinter einer Säule hervor. Sam nahm sie aufs Korn, pustete sie in Stücke. Dean und der Sheriff verschwanden in der Kirche.
Sam ließ den Hebel des Gewehrs los, kniete sich neben Sarah und zog sie, so weit es ging, in den Schutz des Kohlenwagens. Von überall her war das Prasseln des Kugelhagels zu hören.