Sam legte seine Hand auf Sarahs Hals, um den Puls zu fühlen. Sie war noch warm – es war erst einen Moment her.
Er konnte nichts fühlen.
„Er ist irgendwo hier drinnen“, flüsterte Daniels. „Ich kann es fühlen.“
Sie durchquerten den Altarraum, und der Hartholzboden knarrte unter ihren Füßen. Daniels Stimme klang sehr leise inmitten des riesigen, höhlenartigen Kirchenschiffs. Das Licht fiel durch die buntgetönten Glasfenster auf ihr Gesicht und zauberte eine Abfolge ständig wechselnder Stimmungen darauf. Dean folgte ihr, ging leise an den leeren Bankreihen entlang, die sich bis kurz vor den Altar zogen. Er fühlte nichts außer Schmerz und Müdigkeit. Und ihm war merkwürdig kalt. Es war unnatürlich kühl unter der hohen Bogendecke, als ob ein konservierter Rest des Winters hier drinnen auf sie gewartet hätte.
„Hier durch“, sagte der Sheriff mit leiser Stimme.
Sie blieb vor der Kanzel stehen. Eine hohe Plattform aus Eichenholz ragte vor ihnen fast fünf Meter in die Höhe. Daniels ließ ihre Finger über eine Ecke gleiten, fand, was sie suchte und drückte. Das Klicken eines Mechanismus ertönte, als ob sich etwas entkoppelte, und die Verkleidung der Kanzel öffnete sich. Sie gab den Blick auf eine dunkle, rechteckige Öffnung frei, die ziemlich staubig aussah.
Daniels bückte sich, kroch hinein und war verschwunden. Dean hörte, wie sie sich fortbewegte und wünschte, dass er eine Taschenlampe dabeihätte.
Dann verschluckte ihn die Dunkelheit.
Sie befanden sich in einer engen Passage. Die Wände standen so dicht zusammen, dass er beim Kriechen mit beiden Schultern daran entlangschleifte. Weiter vorne, in der Leere, hörte er das Scharren von Daniels Schritten, die ihn Stück für Stück weiterführten. Dean streckte die Arme vor sich aus, um zu sehen, ob dort irgendetwas war, aber er griff nur ins Leere.
Er kroch voran. Tastete … und spürte, wie ihn etwas Kaltes mit festem Griff von hinten packte. Eine Hand.
„Da bist du ja“, hörte er McClane fröhlich sagen und lachen. „Du hast es also endlich geschafft.“
Sam hatte sich im Kohlenwagen über Sarah gebeugt, versuchte es mit Herzmassage und Beatmung. Immer wenn er die Hände auf ihre Brust drückte, sprudelte das Blut aus der Wunde unter ihrer Bluse hervor.
Sie ist tot. Du kannst sie nicht retten.
Er ignorierte die Stimme, arbeitete weiter.
„Komm schon!“, sagte er und war sich überhaupt nicht bewusst, dass er die Worte laut geäußert hatte. „Komm schon, Sarah!“
Ihr Mund öffnete sich ein wenig, als hätte sie sich gerade erinnert, dass sie noch etwas sagen wollte. Statt Worten formte sich aber eine winzige Blutblase auf ihren Lippen und platzte. Das Blut lief über ihre Unterlippe, sodass sie jetzt aussah, als hätte ihr jemand ein Kabuki-Make-up verpasst.
Ihr Kopf kippte zur Seite.
Hinter ihm schallten Schritte durch den Kohlenwagen, und als Sam den Kopf hob, grinsten ihn fünf Dämonen in blauen und grauen Uniformen an.
„Du hättest die Kanone nicht verlassen sollen“, sagte einer von ihnen.
Er kam näher.
Es liegt jetzt in deiner Hand, mein Kind.
Jackie Daniels kam die Leiter herunter und betrat den quadratischen, mit Blei ausgekleideten Raum. Es war vollkommen dunkel, jedes noch so kleine Photon schien aus dem Raum gesogen worden zu sein. Aber das machte nichts. Sie kannte den Raum in- und auswendig. Die Wände, der Boden und die Decke und auch das viereckige Stückchen Boden in der Mitte, wo der Reliquienschrein auf sie wartete – diese Feinheiten waren ihr ebenso vertraut wie ihr eigener Körper. Sie hatte das alles lernen müssen, als sie noch klein war. Ihr Großvater hatte es ihr beigebracht und sie mit der großen Verantwortung vertraut gemacht, die ihr als nächster Wächterin der Schlinge bevorstand.
Es liegt an dir.
In der Dunkelheit ertönte ein Klimpern, das näher kam.
Daniels erstarrte. Ihre Kopfhaut begann zu prickeln, und es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Ihr Herzschlag beschleunigte so stark, dass sie sein Pochen im Hals spürte. Der Geruch von alten Tierhäuten, uraltem Stoff und Staub stieg ihr in die Nase.
Das klimpernde, klirrende Geräusch kam näher.
„Ich habe sie zurückgebracht“, sagte sie in die Dunkelheit und zwang sich, einen weiteren Schritt nach vorne zu machen. „Die letzte Windung. Sie ist hier.“
Es klimperte. Das Wesen hatte sich wieder bewegt. Es musste sie gehört haben, sagte aber nichts.
Sie kniete sich hin und tastete auf dem feuchten Boden nach den kalten Ecken des Reliquienschreins. Er war bereits an seinem Platz und wartete mit geöffnetem Deckel.
Sie ließ die letzte Windung hineinfallen und schlug den Deckel zu.
Einen Moment lang passierte gar nichts.
Dann passierte alles.
* * *
In der Dunkelheit klang McClanes Gelächter sehr nahe und furchtbar vertraut. Es roch nach verbranntem Gummi und Schwefel.
„Wissen Sie was?“, fragte Dean und musste sich wahnsinnig anstrengen, damit seine Stimme vollkommen normal klang. „Kennen Sie den Unterschied zwischen Ihnen und mir? Ich habe mich nie gebückt, um dem Teufel den Arsch zu küssen.“
Das Gelächter brach ab.
Dean spürte die andere Hand an seinem Hals.
Keine Hand.
Eine Klaue.
Sie drückte zu.
Der Griff war so fest wie eine Schraubzwinge und drückte ihm sofort die Luft ab. Ein kaum vernehmliches Knacken ertönte, als die Knorpel in seinem Hals zusammengequetscht wurden.
Deans Hand wanderte an seinen Gürtel, dorthin, wo das Dämonenmesser steckte, und er zog es heraus.
Ich hoffe, Sie haben alles wieder an Ort und Stelle, Sheriff, dachte er, und als die Dunkelheit anfing, sich zu drehen, stieß er die Klinge in McClanes Brust.
Selbst auf den Knien im Kohlewagen konnte Sam sehen, wie die Helligkeit aus den mit bunten Bibelszenen versehenen Glasfenstern in die Morgenluft hinausgeschleudert wurde. Eine Säule aus weißem Licht brach nach oben durch den Turm in den Himmel und stieß einen breiten, leuchtenden Strahlenspeer in die wolkenlose Weite. Die alten Bretter knarrten, schlugen gegeneinander und bebten. Energie zitterte und zuckte zwischen ihnen heraus wie ein pulsierender Megawatt-Sturm. Es war, als hätte sich gerade eine Art stille, wohltätige Explosion ereignet.
An diesem Punkt hörte Sam auf zuzusehen. Er wurde abgelenkt, weil die Dämonen vor ihm Rauch ausstießen und ihre Musketen auf den Boden des Kohlenwagens fallen ließen. Der letzte von ihnen brach mit einem heulenden Schrei aus Wut und Bestürzung zusammen, die schwarze Substanz verflüchtigte sich wirbelnd aus Mund und Nase.
Die verlassenen Körper der Besessenen lagen kreuz und quer durcheinander. Einige erwachten stöhnend, verwirrt und aus Wunden blutend, welche die Dämonen ihnen zugefügt hatten. Andere Körper, wie der von Sarah Rafferty, blieben reglos liegen.
Dean konnte Tommy nicht nur schreien hören, er konnte es spüren. Der Jäger hatte sich darauf vorbereitet, dass der Dämon sterben würde, doch die gleichzeitige Rückkehr der Schlinge an ihren angestammten Ruheort schien die Reaktion noch zu verstärken. Die dämonische Essenz floh nicht einfach aus McClanes Körper, sie explodierte.
Er hörte ein lautes, feuchtes POP!, spürte einen Luftzug an Wangen und Stirn, und der Druck an seinem Hals war verschwunden.
Einfach so.
Dean krümmte sich. Seine Haut war mit etwas Kaltem, Klebrigen bespritzt, als hätte jemand einen mit Hustensaft gefüllten Ballon direkt vor seiner Nase platzen lassen. Der Gestank war ihm wohlbekannt, faulig und übelkeiterregend – ein Geruch aus dem Höllenschlund.
Dann explodierte die Dunkelheit.
Die Haare in Deans Nacken richteten sich auf, ebenso die auf seinen Armen. Das betäubende Knistern von Ozon erfüllte die Luft. Sein erster spontaner Gedanke war, dass er von einem Blitz getroffen worden war, und er begann, so schnell es ging, zurückzukriechen.