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In jenem Augenblick war Crysania klar geworden, warum die Götter die Verwüstung der Welt herbeigeführt hatten. Und sie hatte in ihrem Herzen gewußt, daß Paladin ihre Gebete erhören würde, so wie er die des Königspriesters nicht erhört hatte. Dies war Raistlins Augenblick der Erhabenheit, und gleichsam war es ihr eigener.

Wie der heilige Ritter Huma war sie durch ihre Prüfungen gegangen, die Prüfungen des Feuers, der Dunkelheit, des Todes und des Blutes. Sie war bereit.

»Paladin, Platindrache, deine treue Dienerin kommt zu dir und bittet, daß du deinen Segen auf sie wirfst. Ihre Augen sind deinem Licht geöffnet. Zuletzt hat sie verstanden, was du in deiner Weisheit versucht hast sie zu lehren. Höre ihr Gebet, Strahlender. Sei bei ihr. Öffne dieses Portal, damit sie es durchschreiten und mit deiner Fackel in der Hand vorwärtsgehen kann. Gehe mit ihr, während sie darum ringt, die Dunkelheit für alle Ewigkeit zu bannen!«

Raistlin hielt den Atem an. Alles hing davon ab! Hatte er sie richtig eingeschätzt? Verfügte sie über die Stärke, die Weisheit, den Glauben? War sie wirklich Paladins Auserwählte?

Ein reines und heiliges Licht begann von Crysania auszugehen. Ihr dunkles Haar leuchtete, ihre weißen Roben glänzten wie Wolken im Sonnenlicht, ihre Augen strahlten wie der silberne Mond. Ihre Schönheit war in diesem Augenblick vollkommen.

»Ich danke dir, daß du mein Gebet erhört hast, Gott des Lichtes«, murmelte Crysania und neigte den Kopf. Tränen glänzten wie Sterne auf ihrem blassen Gesicht. »Ich werde mich deiner würdig erweisen!«

Von ihrer Schönheit verzaubert, vergaß Raistlin sein großes Ziel. Er konnte sie nur wie in Trance ansehen. Selbst die Gedanken an seine Magie entwichen ihm einen Herzschlag lang. Dann frohlockte er. Nichts! Nichts konnte ihn nun aufhalten..

»Caramon!« flüsterte Tolpan ehrfürchtig.

»Wir kommen zu spät«, sagte Caramon.

Die zwei waren durch die Verliese auf der untersten Ebene der magischen Festung gegangen und blieben plötzlich stehen. Eingehüllt in silbernes Licht, stand Crysania mitten im Portal, die Arme ausgestreckt, das Gesicht zum Himmel erhoben. Ihre unirdische Schönheit traf Caramon mitten ins Herz.

»Zu spät? Nein!« schrie Tolpan. »Das kann nicht sein!«

»Tolpan«, sagte Caramon traurig, »sieh dir ihre Augen an. Sie ist blind. Genauso blind, wie ich im Turm der Erzmagier gewesen bin. Sie kann nicht durch das Licht sehen...«

»Wir müssen versuchen, mit ihr zu reden, Caramon!« Tolpan klammerte sich an ihn. »Wir dürfen sie nicht gehen lassen. Es... es ist meine Schuld! Ich bin es, der ihr von Bupu erzählt hat! Sie wäre nicht gegangen, wenn ich nicht gewesen wäre! Ich spreche mit ihr!«

Der Kender sprang vorwärts, aber er wurde von Caramon zurückgerissen, der ihn am Haarzopf zu fassen bekommen hatte. Tolpan schrie vor Schmerz und Protest auf, und Raistlin drehte sich um.

Der Erzmagier starrte seinen Bruder und den Kender einen Augenblick an, anscheinend, ohne sie wiederzuerkennen. Dann dämmerte in seinen Augen das Erkennen.

»Pst, Tolpan«, flüsterte Caramon. »Es ist nicht deine Schuld. Bleib ruhig!« Er schob den Kender hinter eine dicke Granitsäule. »Bleib hier«, befahl er. »Paß auf den Anhänger auf – und auf dich.«

Tolpan öffnete den Mund, um Einwände zu erheben. Dann sah er Caramon ins Gesicht. Als sein Blick in den Korridor glitt, sah er Raistlin. Etwas beschlich den Kender. Er hatte das gleiche Gefühl, wie er es in der Hölle erlebt hatte – jämmerlich und verängstigt. »Ja, Caramon«, sagte er leise. »Ich bleibe hier. Ich verspreche es...« Er sah vor seinem geistigen Auge den armen Gnimsch, der wie zerknittert auf dem Zellenboden lag.

Caramon wandte sich ab und hinkte auf seinen Bruder zu.

Raistlin musterte ihn wachsam; er hielt den Stab des Magus in der Hand. »Du hast also überlebt«, bemerkte er.

»Dank den Göttern, nicht dank dir«, erwiderte Caramon.

»Dank einer Göttin, mein teurer Bruder«, berichtigte Raistlin mit einem leicht verzerrten Lächeln. »Dank der Königin der Finsternis. Sie hat den Kender hierher geschickt, und er hat vermutlich die Zeit verändert, so daß dein Leben verschont blieb. Ärgert es dich, Caramon, zu wissen, daß du der Dunklen Königin dein Leben verdankst?«

»Ärgert es dich zu wissen, daß du ihr deine Seele verdankst?«

Raistlins Augen blitzten auf, ihre spiegelgleiche Oberfläche zersprang eine Sekunde. Dann drehte er sich mit einem boshaften Lächeln zum Portal um. Er hob die rechte Hand und hielt sie mit der Handfläche nach außen; sein Blick war auf den Drachenkopf rechts unten an dem ovalen Eingang gerichtet.

»Schwarzer Drache.« Seine Stimme war sanft, liebkosend. »Von Dunkelheit zu Dunkelheit hallt meine Stimme in der Leere wider.«

Als Raistlin diese Worte sprach, begann sich um Crysania eine Aura der Dunkelheit zu bilden, eine Aura, die so schwarz wie das Nachtjuwel war, so schwarz wie das Licht des dunklen Mondes...

Raistlin spürte Caramons Hand auf seinem Arm. Wütend versuchte er, seinen Bruder abzuschütteln, aber Caramons Griff war zu stark.

»Bring uns nach Hause, Raistlin...«

Raistlin drehte sich um und starrte ihn an; er hatte seinen Zorn vor Verblüffung vergessen. »Was?«

»Bring uns nach Hause«, wiederholte Caramon bestimmt.

Raistlin lachte verächtlich. »Du bist ein schwacher, wehleidiger Narr, Caramon!« höhnte er. Verärgert versuchte er noch einmal den Griff seines Bruders abzuschütteln. Er hätte genauso gut versuchen können, den Tod abzuschütteln. »Du mußt doch inzwischen wissen, was ich getan habe! Der Kender muß dir doch von dem Gnom erzählt haben. Du weißt, daß ich dich verraten habe. Ich wollte dich an diesem erbärmlichen Ort deinem Tod überlassen. Und immer noch hängst du an mir!«

»Ich hänge an dir, weil die Wasser über deinem Kopf zusammenschlagen«, entgegnete Caramon. Sein Blick glitt zu seiner starken, sonnengebräunten Hand, die das magere Handgelenk seines Bruders hielt.

»Meine Hand auf deinem Arm. Das ist alles, was wir gemeinsam haben.« Caramon holte tief Atem. Dann fuhr er mit einer Stimme, die von Kummer erfüllt war, fort: »Nichts kann auslöschen, was du getan hast, Raist. Es kann zwischen uns niemals wieder so wie früher sein. Meine Augen wurden geöffnet. Ich erkenne jetzt, wer du bist.«

»Und dennoch bittest du mich, mit dir zu kommen!« höhnte Raistlin.

»Ich kann lernen, mit dem Wissen zu leben, wer du bist und was du getan hast.« Caramon sah aufmerksam in die Augen seines Bruders und sagte leise: »Aber du wirst allein leben müssen, Raistlin. Und es werden Nächte kommen, in denen das unerträglich sein wird.«

Raistlin antwortete nicht. Sein Gesicht war wie eine Maske, undurchdringlich.

Caramons Griff um den Arm seines Bruders festigte sich. »Denk darüber nach. Du hast in deinem Leben Gutes getan, Raistlin – es gibt anderes Gutes, das du tun könntest... Komm nach Hause.«

Komm nach Hause... komm nach Hause...

Raistlin schloß die Augen, der Schmerz in seinem Herzen war fast unerträglich. Weit entfernt konnte er Crysanias leise Stimme hören, die zu Paladin betete. Das weiße Licht flackerte über seinen Augenlidern.

Komm nach Hause...

Als Raistlin sprach, war seine Stimme ganz weich. »Die finsteren Verbrechen, die meine Seele beflecken, Bruder, kannst du dir nicht vorstellen. Wenn du sie wüßtest, würdest du dich von mir in Entsetzen und Ekel abwenden.« Er seufzte und zitterte leicht. »Du hast recht. In der Nacht wende ich mich manchmal von mir selbst ab.« Er öffnete die Augen und starrte aufmerksam in die seines Bruders. »Aber wisse, Caramon, ich habe diese Verbrechen bewußt begangen. Wisse auch dies: Es liegen noch andere Verbrechen vor mir, und ich werde sie begehen, bewußt...« Sein Blick glitt zu Crysania, die im Portal stand, betete, in ihrer Schönheit leuchtete.

Caramon sah sie an, und sein Gesicht drückte Bitterkeit aus.

Raistlin beobachtete ihn; er lächelte. »Ja, mein Bruder, sie wird die Hölle mit mir betreten. Sie wird vor mir gehen und meine Schlachten austragen. Sie wird dunklen Klerikern gegenübertreten, Zauberern, Geistern der Toten, die verdammt sind, in diesem verfluchten Land herumzuwandern und die unglaublichsten Foltern auf sich nehmen, die sich meine Königin nur ausdenken kann. All dies wird ihren Körper verletzen, ihren Geist verschlingen und ihre Seele zerstören. Schließlich, wenn sie es nicht mehr ertragen kann, wird sie auf den Boden sinken und vor meinen Füßen liegen... blutend, erbärmlich, sterbend. Sie wird mit letzter Kraft ihre Hand nach mir ausstrecken. Sie wird mich nicht bitten, sie zu retten. Dafür ist sie zu stark. Sie wird mir ihr Leben freiwillig, freudig geben. Sie wird lediglich darum bitten, daß ich bei ihr bleibe, wenn sie stirbt.« Er holte tief Atem, dann zuckte er die Schultern. »Aber ich werde an ihr vorbeigehen, Caramon. Ich werde an ihr vorbeigehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ohne ein Wort zu verlieren. Warum? Weil ich dann keine Verwendung mehr für sie habe. Ich werde weiter auf mein Ziel zugehen, und meine Kraft wird wachsen, noch während das Blut aus ihrem gebrochenen Herzen fließt.« Er wandte sich halb um und hob die linke Hand mit der Handfläche nach außen. Er sah auf den Drachenkopf oben am Portal und sagte leise den zweiten Zauber auf: »Weißer Drache, von dieser Welt zur nächsten ruft meine Stimme voll von Leben.«