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Mar riss überrascht die Augen auf und schlug die Hände vor den Mund. Der Majordomus wollte sich erneut umdrehen, doch Arnau hielt ihn ein weiteres Mal zurück.

»He!«, rief er. »Wo befinden sich unsere Gemächer?« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Wo ist der Hauptmann?«

»Er kümmert sich um die Herrin.«

»Dann geh hinauf zu ihr und schick den Hauptmann nach unten. Und beeil dich, sonst schneide ich dir die Eier ab, und dann zwitscherst du bei der nächsten Burgübergabe wie ein Vögelchen.«

Der Majordomus zögerte, während er die Balustrade umklammerte. War das derselbe Arnau, der den ganzen Tag geduldig auf einem Karren gesessen hatte? Arnau kniff die Augen zusammen. Dann ging er zur Treppe und zog seinen Dolch aus Bastaix-Zeiten, den er bei der Hochzeit unbedingt tragen wollte. Der Majordomus sah die stumpfe Spitze nicht mehr; beim dritten Schritt von Arnau stürzte er die Treppe hinauf.

Als Arnau sich umdrehte, sah er Mar lachen. Bruder Joan hingegen blickte missmutig drein. Doch auch einige von Elionors Sklaven waren Zeugen der Szene geworden und tauschten belustigte Blicke aus.

»Und ihr ladet den Wagen ab und bringt die Sachen auf unsere Zimmer«, befahl er ihnen.

Sie lebten nun bereits seit über einem Monat auf der Burg. Arnau hatte versucht, Ordnung in seine neuen Besitzungen zu bringen, doch jedes Mal, wenn er sich in die Bücher der Baronie vertiefte, klappte er sie schließlich mit einem Seufzer zu. Zerrissene Seiten, ausradierte und überschriebene Zahlen, widersprüchliche, wenn nicht gar falsche Daten. Sie waren nicht zu durchschauen, außerdem völlig unlesbar.

Nach einer Woche Aufenthalt in Montbui begann Arnau mit dem Gedanken zu spielen, nach Barcelona zurückzukehren und die Liegenschaften einem Verwalter zu überlassen, doch dann entschied er sich, sie ein wenig besser kennenzulernen. Doch dazu suchte er nicht etwa die Adligen auf, die ihm Gefolgschaft schuldeten, ihn bei ihren Besuchen auf der Burg jedoch völlig ignorierten und stattdessen ihr Knie vor Elionor beugten. Sein Augenmerk galt dem gemeinen Volk, den Bauern, den Untergebenen seiner Untergebenen.

Begleitet von Mar, streifte er neugierig durch die Felder. Was wohl von dem stimmen mochte, was man in Barcelona so hörte? Die Entscheidungen der Händler in der großen Stadt, zu denen auch er gehörte, beruhten oft auf Nachrichten vom Hörensagen. Arnau wusste, dass die Pestepidemie von 1348 das Land entvölkert hatte und dass erst im vergangenen Jahr, 1358, eine Heuschreckenplage die Ernten vernichtet und damit die Lage noch verschlimmert hatte. Dies begann sich allmählich im Handel bemerkbar zu machen und die Kaufleute veränderten ihre Strategien.

»Mein Gott!«, murmelte er hinter dem ersten Bauern her, als dieser ins Haus lief, um dem neuen Baron seine Familie vorzustellen.

Genau wie Arnau konnte Mar nicht den Blick von der heruntergekommenen Hütte wenden, die genauso schäbig und schmutzig war wie der Mann, der sie begrüßt hatte und der nun in Begleitung einer Frau und zweier kleiner Kinder wieder aus dem Haus kam.

Die vier stellten sich in einer Reihe vor ihnen auf und versuchten eine ungeschickte Verbeugung. Angst stand in ihren Augen. Ihre Kleidung war zerschlissen und die Kinder konnten sich kaum auf den Beinen halten. Ihre Beine waren spindeldürr.

»Das ist deine ganze Familie?«, fragte Arnau.

Der Bauer wollte eben nicken, als aus dem Haus ein schwaches Wimmern zu vernehmen war. Arnau runzelte die Stirn und der Mann schüttelte langsam den Kopf. Die Angst in seinen Augen wurde zu Traurigkeit.

»Meine Frau hat keine Milch, Herr.«

Arnau betrachtete die Frau. Wie sollte dieser Körper Milch haben? Sie war bis auf die Knochen abgemagert!

»Und es gibt niemanden hier, der …?«

Der Bauer kam seiner Frage zuvor.

»Es geht allen gleich, Herr. Die Kinder sterben.«

Arnau sah, wie Mar die Hand vor den Mund schlug.

»Zeig mir deinen Hof. Den Kornspeicher, die Ställe, dein Haus, die Felder.«

»Wir können nicht noch mehr zahlen, Herr!« Die Frau war auf die Knie gefallen und kroch auf Mar und Arnau zu. Arnau packte sie an den Armen. Bei der Berührung zuckte die Frau zusammen. Die Kinder begannen zu weinen.

»Schlagt sie nicht, Herr, ich flehe Euch an«, warf ihr Mann ein und trat näher. »Es ist wahr, wir können nicht mehr zahlen. Schlagt mich stattdessen.«

Arnau ließ die Frau los und trat einige Schritte zurück, bis er neben Mar stand, die das Geschehen mit weit aufgerissenen Augen verfolgte.

»Ich werde sie nicht schlagen«, sagte er dann, an den Bauern gewandt. »Und auch dich nicht. Niemanden aus deiner Familie. Ich werde nicht mehr Geld verlangen. Ich will nur deinen Hof sehen. Sag deiner Frau, sie soll aufstehen.«

Zuerst war es Angst gewesen, dann Traurigkeit, nun war es Verwunderung. Überrascht starrten sie Arnau aus ihren eingefallenen Augen an. Spielen wir hier Gott?, dachte Arnau. Was hatte man dieser Familie angetan, dass sie so reagierte? Sie ließen eines ihrer Kinder sterben und dachten immer noch, jemand könne kommen, um mehr Geld von ihnen zu verlangen.

Der Kornspeicher war leer, der Stall auch. Die Felder lagen brach, die Arbeitsgeräte waren abgenutzt, und das Haus … Wenn das Kind nicht Hungers starb, dann an irgendeiner Krankheit. Arnau wagte es nicht, es anzufassen. Es sah aus, als würde es bei der kleinsten Berührung zerbrechen.

Arnau löste die Börse vom Gürtel und nahm ein paar Münzen heraus. Er wollte sie dem Mann geben, doch dann besann er sich und nahm noch mehr Münzen heraus.

»Ich will, dass dieses Kind lebt«, sagte er, während er das Geld auf ein Möbelstück legte, das irgendwann einmal ein Tisch gewesen sein musste. »Ich will, dass du, deine Frau und deine beiden anderen Kinder zu essen habt. Dieses Geld ist für euch, verstanden? Niemand hat ein Recht darauf. Sollte es Probleme geben, dann kommt zu mir auf die Burg.«

Niemand rührte sich. Die Bauersfamilie starrte die Münzen an. Sie konnten sich nicht einmal von dem Anblick losreißen, um sich von Arnau zu verabschieden, als dieser das Haus verließ.

Bedrückt und schweigend kehrte Arnau auf die Burg zurück. Auch Mar sagte nichts.

»Es geht allen gleich, Joan«, sagte Arnau irgendwann, als die beiden unweit der Burg durch die kühle Abendluft spazierten. »Einige hatten Glück und konnten in verlassenen Höfen unterkommen, deren Bewohner gestorben oder auch nur geflüchtet sind – was bleibt ihnen anderes übrig? Dieses Land nutzen sie nun als Forst- und Weideland und sichern so ihr Überleben, falls die Felder keinen Ertrag abwerfen. Aber die anderen … die anderen befinden sich in einer verzweifelten Lage. Die Felder bringen keinen Ertrag und sie verhungern.«

»Das ist noch nicht alles«, setzte Joan hinzu. »Ich habe gehört, dass die Adligen, deine Lehnsmänner, die übrig gebliebenen Bauern dazu verpflichten, sämtliche Feudalansprüche zu erfüllen, die in guten Zeiten nicht in Kraft waren. Die wenigen, die geblieben sind, werden ausgeblutet, um keine Einbußen zu haben gegenüber früher, als es noch viele waren und die Dinge gut liefen.«

Arnau schlief seit Tagen schlecht und schreckte immer wieder hoch, weil er im Traum ausgezehrte Gesichter vor sich sah. Doch in dieser Nacht fand er erst gar keinen Schlaf. Er hatte seine Besitzungen besucht und war großzügig gewesen. Wie konnte er so etwas zulassen? All diese Familien waren von ihm abhängig – zuallererst von ihren Herrschaften, doch diese waren ihrerseits Arnaus Lehnsmänner. Wenn er als ihr Herr die Zahlung ihrer Pachtzinsen und Abgaben von ihnen verlangte, würden die Adligen die neuen Belastungen, die der Vogt nur äußerst nachlässig eingetrieben hatte, an diese unglücklichen Menschen weitergeben.

Sie waren Sklaven. Sklaven des Landes. Sklaven seines Landes. Arnau wälzte sich im Bett herum. Seine Sklaven! Ein Heer hungernder Männer, Frauen und Kinder, auf die niemand etwas gab, außer um sie bis auf den Tod auszupressen. Arnau dachte an die Adligen, die Elionor ihre Aufwartung gemacht hatten, gesund, kräftig, vornehm gekleidet … Wie konnten sie leben, ohne zu bemerken, wie ihre Untertanen litten? Was konnte er tun?