Während Arnau jeden Tag niedergeschlagener war, sah Elionors Befinden ganz anders aus.
»Sie hat zu Maria Himmelfahrt Adlige, Bauern und Dörfler herbestellt«, erklärte Joan seinem Bruder. Der Dominikanermönch war der Einzige, der in irgendeiner Weise Kontakt zur Baronin hatte.
»Warum das?«
»Damit sie euch ihre Aufwartung machen«, erläuterte er. Arnau bat ihn fortzufahren. »Nach dem Gesetz …« Joan hob entschuldigend die Arme. Du hast mich darum gebeten, schien er sagen zu wollen. »Nach dem Gesetz kann ein Adliger jederzeit von seinen Untertanen eine Erneuerung ihres Treueschwurs verlangen. Da Elionor diesen noch nicht entgegengenommen hat, ist es nur verständlich, dass sie dies nun ändern will.«
»Soll das heißen, dass sie kommen werden?«
»Adlige und Ritter sind nicht verpflichtet, einem öffentlichen Aufruf Folge zu leisten, solange sie ihrem Herrn im Verlaufe eines Jahres, eines Monats und eines Tages ihre Aufwartung machen. Aber Elionor hat mit ihnen gesprochen, und so wie es aussieht, werden sie kommen. Immerhin ist sie ein Mündel des Königs. Niemand will es sich mit der Ziehtochter des Königs verscherzen.«
»Und mit dem Ehemann der Ziehtochter des Königs?«
Joan antwortete nicht. Doch da war etwas in seinen Augen … Er kannte diesen Blick.
»Hast du mir etwas zu sagen, Joan?«
Der Mönch schüttelte den Kopf.
Elionor ließ auf einer Wiese zu Füßen der Burg ein Podest errichten. Sie träumte von Maria Himmelfahrt. Wie oft hatte sie gesehen, wie Adlige und ganze Dörfer ihrem Vormund, dem König, den Treueid geleistet hatten. Nun würde man ihr den Treueid schwören, wie einer Königin, die über ihr Land herrschte. Was tat es da zur Sache, dass Arnau an ihrer Seite war? Alle wussten, dass der Treueid ihr galt, der Ziehtochter des Königs.
So groß war ihre Vorfreude, dass sie sich kurz vor dem großen Tag sogar dazu herabließ, Arnau zuzulächeln, zwar nur von fern und sehr flüchtig, aber sie lächelte.
Arnau zögerte, und seine Lippen verzogen sich zu einer schiefen Grimasse.
»Warum nur habe ich ihm zugelächelt?«, dachte Elionor. Sie ballte die Fäuste. »Wie dumm von mir, mich vor einem gewöhnlichen Geldwechsler, einem entlaufenen Bauern zu demütigen!« Sie lebten nun seit anderthalb Monaten in Montbui und Arnau hatte sich ihr nicht genähert. War er denn kein Mann? Wenn niemand hinschaute, betrachtete sie Arnaus starken, kräftigen Körper, und wenn sie nachts alleine in ihrem Bett lag, träumte sie davon, dass dieser Mann sie leidenschaftlich nahm. Wie lange hatte sie keine Leidenschaft mehr empfunden? Und er demütigte sie mit seiner Gleichgültigkeit. Wie konnte er es wagen? Elionor biss sich heftig auf die Unterlippe. Er wird schon noch kommen, sagte sie sich.
An Mariä Himmelfahrt stand Elionor frühmorgens auf. Vom Fenster ihres einsamen Schlafgemachs aus sah sie auf die Wiese mit dem Podest hinunter, das sie hatte errichten lassen. Die Bauern begannen sich in der Ebene einzufinden. Viele hatten überhaupt nicht geschlafen, um dem Aufruf ihrer Herrschaften rechtzeitig zu folgen. Ein Adliger war noch nicht gekommen.
40
Die Sonne verhieß einen herrlichen, heißen Tag. Der Himmel war klar und wolkenlos wie vor beinahe vierzig Jahren bei der Hochzeit eines Leibeigenen namens Bernat Estanyol. Wie eine leuchtend blaue Kuppe wölbte er sich über den Tausenden von Untertanen, die sich in der Ebene versammelt hatten. Bald war es so weit. Elionor, die ihre prächtigsten Kleider trug, ging nervös in dem großen Saal der Burg Montbui auf und ab. Es fehlten nur noch die Adligen und Ritter! Joan saß in seinem schwarzen Habit auf einem Stuhl, und Arnau und Mar warfen sich bei jedem verzweifelten Seufzer von Elionor belustigte Blicke zu, so als hätten sie mit der ganzen Sache nichts zu tun.
Schließlich trafen die Adligen ein. Einer von Elionors Dienern, der genauso ungeduldig war wie seine Herrin, stürzte formlos in den Saal, um ihre Ankunft zu melden. Die Baronin trat ans Fenster, und als sie sich wieder zu den Anwesenden umdrehte, strahlte ihr Gesicht vor Glück. Die Adligen ihrer Baronie zogen mit allem Pomp, den sie aufzubieten hatten, in die Ebene ein. Mit ihren kostbaren Kleidern, ihren Schwertern und Juwelen mischten sie sich unters Volk und brachten Farbe in das triste Grau der Bauernkleidung. Die Pferde wurden von Stallburschen hinter dem Podest aufgestellt. Ihr Wiehern übertönte das Schweigen, mit dem die einfachen Leute ihre Herrschaften empfingen. Die Diener der Adligen stellten kostbare, mit bunter Seide bezogene Sessel vor dem Podest auf, wo die Adligen ihren neuen Baronen den Treueid leisten sollten. Instinktiv rückten die Menschen von der hintersten Stuhlreihe ab, um einen sichtbaren Abstand zwischen sich und den Privilegierten zu schaffen.
Elionor sah erneut aus dem Fenster und lächelte, als sie feststellte, mit wie viel Prunk und Vornehmheit ihre Vasallen sie willkommen zu heißen gedachten. Als sie schließlich vor ihnen auf dem Podest saß und sie von oben herab betrachtete, fühlte sie sich wie eine echte Königin.
Elionors Schreiber, der als Zeremonienmeister fungierte, eröffnete den Festakt, indem er den Erlass Pedros III. verlas, durch den dieser seinem Mündel Elionor die königliche Baronie Granollers, Sant Vicenç und Caldes de Montbui mitsamt aller Untertanen, Ländereien und Zehnten zur Mitgift gab. Elionor waren seine Worte eine Genugtuung. Sie spürte die Blicke, den Neid und – so schien es ihr – den Hass ihrer Gefolgsleute, die bislang allein dem König Untertan gewesen waren. Auch zukünftig würden sie dem Herrscher zur Treue verpflichtet sein, doch von nun an würde eine weitere Autorität zwischen ihnen stehen: sie, Elionor. Arnau hingegen achtete gar nicht auf die Worte des Schreibers, sondern erwiderte das Lächeln der Bauern, die er besucht und denen er geholfen hatte.
Unter dem einfachen Volk standen unbeteiligt zwei auffällig gekleidete Frauen, wie es ihnen ihr Stand als Dirnen vorschrieb. Die eine war bereits betagt, die andere eine reife Schönheit, die stolz ihre Reize zur Schau stellte.
»Ihr Adligen und Ritter!«, rief der Schreiber, und diesmal hörte auch Arnau hin. »Schwört ihr Arnau und Elionor, Baron und Baronin von Granollers, Sant Vicenç und Caldes de Montbui, die Treue?«
»Nein!«
Das Nein schien den Himmel zu zerreißen. Der abgesetzte Vogt der Burg Montbui war aufgestanden und hatte mit donnernder Stimme auf die Frage des Schreibers geantwortet. Ein leises Murmeln erhob sich aus der Menge, die sich hinter den Adligen drängte. Joan schüttelte den Kopf, als hätte er es bereits geahnt. Mar sah unsicher aus zwischen all diesen Leuten, Arnau wusste nicht, was er machen sollte, und Elionor wurde wachsbleich.
Der Schreiber sah zu dem Podest, um die Anweisungen seiner Herrin entgegenzunehmen, doch als diese ausblieben, ergriff er die Initiative: »Ihr weigert euch?«
»Wir weigern uns«, polterte der Vogt selbstsicher. »Nicht einmal der König kann uns zwingen, einer Person den Treueid zu leisten, die von geringerem Stand ist als wir. So ist das Gesetz!« Joan nickte traurig. Er hatte es Arnau nicht sagen wollen. Die Adligen hatten Elionor getäuscht. »Arnau Estanyol«, fuhr der Vogt, an den Schreiber gewandt, fort, »ist Bürger von Barcelona, der Sohn eines landflüchtigen Bauern. Wir werden uns nicht vor dem Sohn eines Unfreien beugen, auch wenn ihm der König jene Titel verliehen hat, die du genannt hast!«
Die Jüngere der beiden auffällig gekleideten Frauen stellte sich auf die Zehenspitzen, um das Podest sehen zu können. Der Anblick der Adligen, die dort versammelt saßen, hatte ihre Neugier geweckt, doch als sie aus dem Mund des Vogts den Namen Arnau hörte, Bürger von Barcelona und Sohn eines Unfreien, begannen ihre Knie zu zittern.
Während im Hintergrund das Gemurmel der Menge zu hören war, sah der Schreiber erneut zu Elionor hinüber. Auch Arnau sah sie an, doch die Ziehtochter des Königs rührte sich nicht. Sie war wie versteinert. Nach dem ersten Schock hatte sich ihre Überraschung in Zorn gewandelt. Ihr bleiches Gesicht hatte sich gerötet, sie zitterte vor Wut und umklammerte die Lehnen ihres Sessels so fest, als wollte sie ihre Finger in das Holz bohren.