»Die Lage ist dramatisch, Guillem«, erklärte Arnau, als sie nach der ersten Begrüßung alleine zurückblieben. »Um das Prinzipat ist es noch wesentlich schlechter bestellt, als wir dachten. Hier erreichen uns nur vage Nachrichten, doch man muss mit eigenen Augen sehen, in welchem Zustand sich die Felder und das Land befinden. Es sieht nicht gut für uns aus.«
»Ich habe schon längst Maßnahmen ergriffen«, überraschte ihn Guillem. Arnau bat ihn fortzufahren. »Die Krise hat sich schon lange angekündigt. Wir haben bereits einmal darüber gesprochen. Unsere Währung verliert im Ausland immer mehr an Wert, doch der König hier in Katalonien unternimmt nichts dagegen. Die Wechselkurse sind unhaltbar. Die Stadt verschuldet sich immer tiefer, um zu erhalten, was sich Barcelona geschaffen hat. Der Handel wirft keine Gewinne mehr ab und die Leute sehen sich nach sichereren Orten für ihr Geld um.«
»Und unser Geld?«
»Ist im Ausland. In Pisa, in Florenz, sogar in Genua. Dort kann man noch zu vernünftigen Kursen handeln.« Die beiden schwiegen. »Castelló wurde für bankrott erklärt«, erklärte Guillem dann. »Das Unheil nimmt seinen Lauf.«
Arnau erinnerte sich an den freundlichen, dicken, stets schwitzenden Geldwechsler.
»Was ist geschehen?«
»Er war unvorsichtig. Die Leute haben begonnen, ihre Einlagen zurückzuverlangen, und er konnte sie nicht auszahlen.«
»Wird er zahlen können?«
»Ich glaube nicht.«
Am 29. August kehrte der König siegreich von seinem Mallorca-Feldzug gegen Pedro den Grausamen zurück. Als die katalanische Flotte vor den Balearen auftauchte, war der Kastilier von Ibiza geflohen, nachdem er die Insel zuvor erobert und geplündert hatte.
Als einen Monat später Elionor eintraf, bezogen die Estanyols den Palast in der Calle de Monteada. Auch Guillem zog mit ein, obwohl er sich anfänglich geweigert hatte.
Nach zwei Monaten gewährte der König dem Vogt von Montbui eine Audienz. Tags zuvor hatten Gesandte des Königs um ein weiteres Darlehen in Arnaus Wechselstube ersucht. Als man es ihnen gewährte, schickte der König den Vogt weg und ließ Arnaus Anordnungen bestehen.
Nach weiteren zwei Monaten war die Frist von sechs Monaten abgelaufen, die das Gesetz einem Bankrotteur zugestand, um seine Schulden zu begleichen, und der Geldwechsler Castelló wurde vor seiner Wechselstube an der Plaza dels Canvis enthauptet. Sämtliche Geldwechsler der Stadt mussten der Hinrichtung in der ersten Reihe beiwohnen. Arnau sah, wie sich nach einem sicheren Hieb des Henkers Castellós Haupt vom Rumpf trennte. Gerne hätte er wie so viele andere die Augen geschlossen, doch er konnte nicht. Er musste hinsehen. Es war eine Mahnung zur Vorsicht, die er niemals vergessen durfte, sagte er sich, während sich das Blut auf das Schafott ergoss.
42
Er sah sie lächeln. Arnau sah seine Schutzpatronin weiterhin lächeln, und auch das Leben zeigte ihm sein freundliches Gesicht. Er war nun vierzig Jahre alt, und trotz der Krise liefen seine Geschäfte gut und warfen große Gewinne ab, von denen er einen Teil an die Bedürftigen gab oder an die Kirche Santa María stiftete. Mit der Zeit gab Guillem ihm recht: Die einfachen Leute aus dem Volk zahlten ihre Darlehen Münze für Münze zurück. Arnaus Kirche wuchs weiter in die Höhe. Das dritte Mittelschiffjoch und die beiden Achtecktürme an der Hauptfassade waren im Entstehen begriffen. In Santa María wimmelte es vor Handwerkern: Steinmetze und Bildhauer, Maler, Glaser, Zimmerleute und Schmiede. Es gab sogar einen Orgelbauer, dessen Arbeit Arnau aufmerksam verfolgte. Wie würde die Musik in dieser gewaltigen Kirche klingen?, fragte er sich oft. Nach dem Tod des Erzdiakons Bernat Llull und dem vorübergehenden Wirken zweier anderer Kanoniker hatte nun Pere Salvete de Montirac, mit dem Arnau regelmäßig zu tun hatte, dieses Amt inne. Auch der große Baumeister Berenguer de Montagut und sein Nachfolger Ramon Despuig waren gestorben. Nun war Guillem Metge mit der Leitung der Bauarbeiten befasst.
Aber Arnau war nicht nur mit den Pröpsten von Santa María gut bekannt. Durch seine finanzielle Situation und seine neue Aufgabe pflegte er auch einen vertrauten Umgang mit den Ratsherren und Zunftmeistern der Stadt sowie den Mitgliedern des Rats der Hundert. Seine Meinung wurde an der Börse gehört und Händler und Geschäftsleute folgten seinen Ratschlägen.
»Du musst das Amt annehmen«, hatte ihm Guillem geraten.
Arnau bedachte sich kurz. Man hatte ihm einen der beiden Posten als Seekonsul von Barcelona angeboten. Der Seekonsul war der oberste Vertreter des Handels in der Stadt, mit eigener Rechtsbefugnis bei geschäftlichen Auseinandersetzungen, unabhängig von allen anderen Institutionen in Barcelona, dafür zuständig, Probleme im Hafen und unter den Arbeitern zu lösen und darauf zu achten, dass die Vorschriften und Satzungen des Handels eingehalten wurden.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann …«
»Niemand ist besser dafür geeignet als du, Arnau, glaub mir«, unterbrach ihn Guillem. »Du kannst das. Ganz sicher kannst du das.«
Und so willigte Arnau ein, einer der beiden neuen Konsuln zu werden, wenn die Amtszeit der Vorgänger endete.
Santa María, seine Geschäfte, seine künftigen Pflichten als Seekonsul – das alles schuf eine Mauer rund um Arnau, hinter der sich der ehemalige Bastaix wohlfühlte. Wenn er nach Hause in den Palast in der Calle Monteada kam, merkte er nicht, was hinter dem großen Portal vor sich ging.
Arnau hatte sein Versprechen gegenüber Elionor gehalten, doch sein Verhalten bestätigte auch die Gründe, deretwegen er ihr dieses Angebot unterbreitet hatte. Ihr Verhältnis war kühl und distanziert und beschränkte sich auf das Allernötigste. Unterdessen war Mar zwanzig Jahre alt und weigerte sich nach wie vor zu heiraten. Weshalb sollte sie, wo sie doch Arnau hatte? Was würde er ohne sie tun? Wer sollte ihm die Schuhe ausziehen und ihn umsorgen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam? Wer sollte mit ihm reden und sich seine Probleme anhören? Elionor vielleicht? Joan, der sich mehr und mehr in seine Studien vertiefte? Die Sklaven? Oder Guillem, mit dem er bereits den Großteil des Tages verbrachte?
Jeden Tag wartete Mar ungeduldig auf Arnaus Heimkehr. Wenn sie ihn an das große Portal klopfen hörte, schlug ihr Herz schneller, und mit einem Lächeln auf den Lippen stürmte sie los, um ihn oben an der Treppe zur Adelsetage zu erwarten. Während des Tages, wenn Arnau nicht da war, war ihr Leben eintönig und eine ständige Qual.
»Kein Rebhuhn!«, tönte es da durch die Küche. »Heute gibt es Kalbfleisch.«
Mar wandte sich zu der Baronin um, die in der Küchentür stand. Arnau mochte Rebhuhn, also war sie mit Donaha welches kaufen gegangen. Sie hatte das Geflügel selbst ausgewählt, es an einem Balken in der Küche aufgehängt und täglich seinen Zustand geprüft. Schließlich befand sie, dass es abgehangen genug war, und ging frühmorgens nach unten in die Küche, um es zuzubereiten.
»Aber …«, wollte Mar widersprechen.
»Kalbfleisch«, bestimmte Elionor und warf Mar einen vernichtenden Blick zu.
Mar sah Donaha an, doch die Sklavin zuckte beinahe unmerklich mit den Schultern.
»Was in diesem Haus gegessen wird, bestimme ich«, setzte die Baronin hinzu, diesmal an die gesamte Dienerschaft in der Küche gewandt. »In diesem Haus habe ich das Sagen!«
Damit drehte sie sich um und ging.
An diesem Tag wartete Elionor ab, welche Folgen ihr Affront hatte. Würde sich das Mädchen an Arnau wenden oder würde es die Auseinandersetzung für sich behalten? Auch Mar dachte darüber nach, ob sie Arnau davon erzählen sollte. Was gewann sie damit? Wenn Arnau für sie Partei ergriff, würde er Streit mit Elionor bekommen, und sie war ja tatsächlich die Hausherrin. Und wenn er nicht für sie Partei ergriff? Die Vorstellung versetzte ihr einen Stich. Arnau hatte einmal gesagt, dass er den König nicht vor den Kopf stoßen dürfe. Und wenn Elionor sich ihretwegen beim König beschwerte? Was würde Arnau dann sagen?