Guillem folgte weiter der Straße in Richtung Küste und erreichte nach zwei Tagen Salou, den zweitwichtigsten Hafen Kataloniens. Dort blickte er übers Meer zum Horizont, und die Meeresbrise trug Erinnerungen an seine Kindheit in Genua zu ihm, Erinnerungen an eine Mutter und mehrere Geschwister, von denen er grausam getrennt wurde, als man ihn an einen Händler verkaufte, bei dem er dann das Geschäft zu erlernen begann. Auf einer Schiffsreise gerieten Herr und Sklave in Gefangenschaft der Katalanen, die im ständigen Krieg mit Genua lagen. Guillem ging von Hand zu Hand, bis Hasdai Crescas schließlich erkannte, dass seine Fähigkeiten weit über die eines einfachen Arbeiters hinausgingen. Guillem sah erneut aufs Meer hinaus, zu den Schiffen und den Reisenden … Warum nicht Genua?
»Wann läuft das nächste Schiff in die Lombardei aus, nach Pisa?«
Der junge Mann blätterte nervös in den Unterlagen, die sich auf dem Schreibtisch des Ladens stapelten. Er kannte Guillem nicht und hatte ihn zunächst mit Herablassung behandelt, wie er es bei jedem schmutzigen, stinkenden Sklaven getan hätte, doch als der Maure sich vorstellte, fielen ihm die Worte ein, die er so häufig von seinem Vater gehört hatte: »Guillem ist die rechte Hand von Arnau Estanyol, des Seekonsuls von Barcelona, von dem wir alle leben.«
»Ich brauche Schreibzeug und einen ruhigen Ort, um einen Brief zu verfassen«, sagte Guillem.
»Ich nehme dein Angebot, mich freizulassen, an«, schrieb er. »Ich werde über Pisa nach Genua reisen, in deinem Namen und als dein Sklave, und dort auf die Freilassungsurkunde warten.« Was gab es noch zu sagen? Dass er ohne Mar nicht leben konnte? Würde Arnau, sein Herr und Freund, das können? Wozu ihn daran erinnern? »Ich mache mich auf die Suche nach meinen Wurzeln, nach meiner Familie«, schrieb er weiter. »Neben Hasdai bist du mein bester Freund gewesen. Gib auf ihn acht. Ich werde dir ewig dankbar sein. Allah und die Jungfrau Maria mögen dich beschützen. Ich werde für dich beten.«
Sobald die Galeere, auf der sich Guillem eingeschifft hatte, den Hafen von Salou verließ, machte sich der junge Mann, der den Mauren bedient hatte, auf den Weg nach Barcelona.
Arnau schrieb langsam Guillems Freilassungsbrief, während er jeden Buchstaben des Schriftstücks betrachtete. Die Pest, der Krieg, die Wechselstube, Tage voller Arbeit, angeregter Gespräche, Freundschaft und Freude … Seine Hand zitterte, als er den letzten Strich machte. Nachdem er unterschrieben hatte, ließ er die Feder sinken. Sie wussten beide, dass es andere Gründe gewesen waren, die Guillem zur Flucht bewegt hatten.
Arnau kehrte zur Börse zurück, wo er Anweisung gab, die Freilassungsurkunde an seinen Handelsvertreter in Pisa zu übersenden. Dieser legte er eine Anweisung über ein kleines Vermögen bei.
»Warten wir nicht auf Arnau?«, fragte Joan Elionor, nachdem er das Esszimmer betreten hatte, wo die Baronin bereits am Tisch saß.
»Habt Ihr Hunger?« Joan nickte. »Nun, wenn Ihr etwas essen wollt, solltet Ihr es besser jetzt tun.«
Der Mönch nahm Elionor gegenüber am Kopfende des langen Esstisches Platz. Zwei Diener trugen Weißbrot, Wein, Suppe und geschmorte Gans mit Paprika und Zwiebeln auf.
»Sagtet Ihr nicht, Ihr hättet Hunger?«, bemerkte Elionor, als sie sah, dass der Mönch nur im Essen herumstocherte.
Es war der einzige Satz, der während des gesamten Abends gesprochen wurde. Joan sah seine Schwägerin stumm an.
Mehrere Stunden, nachdem er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, hörte Joan Bewegung im Palast. Dienstboten liefen, um Arnau zu empfangen. Sie würden ihm etwas zu essen anbieten, und er würde es ablehnen, wie er es auch die drei Male getan hatte, die Joan beschlossen hatte, auf ihn zu warten: Arnau hatte sich in einen der Salons des Palasts gesetzt, wo Joan auf ihn wartete, und mit einer müden Geste die späte Mahlzeit zurückgewiesen.
Joan hörte die Dienstboten zurückkommen. Dann hörte er Arnau an seiner Tür vorbei langsam zu seinem Schlafzimmer gehen. Was sollte er ihm sagen, wenn er jetzt zu ihm ging? Dreimal hatte er auf ihn gewartet und versucht, mit ihm zu sprechen, doch Arnau war verschlossen gewesen und hatte nur einsilbig auf die Fragen seines Bruders geantwortet. »Geht es dir gut?« »Ja.« »Hast du viel zu tun in der Börse?« »Nein.« »Läuft es gut?« Schweigen. »Und Santa María?« »Gut.« In der Dunkelheit seines Zimmers barg Joan das Gesicht in seinen Händen. Arnaus Schritte waren verklungen. Worüber sollte er mit ihm reden? Über sie? Sollte Arnau aus seinem Munde hören, dass er sie liebte? Wo er es sich selbst nicht eingestand?
Joan hatte gesehen, wie Mar die Träne wegwischte, die Arnau übers Gesicht lief. »Vater«, hatte sie gesagt. Er hatte gesehen, wie Arnau zitterte. Dann hatte Joan sich umgedreht und gesehen, wie Elionor lächelte. War es nötig gewesen, ihn leiden zu sehen, um zu begreifen … Aber wie konnte er ihm die Wahrheit gestehen? Wie sollte er ihm sagen, dass er es gewesen war, der … Wieder sah Joan diese Träne vor sich. So sehr liebte er sie? Würde er sie vergessen können? Niemand tröstete Joan, als er wieder einmal niederkniete und bis zum Morgengrauen betete.
»Ich möchte weg aus Barcelona.«
Der Prior der Dominikaner betrachtete den Mönch eingehend. Er war abgemagert, seine tiefliegenden Augen waren von dunklen Schatten umgeben, und sein schwarzer Habit war zerknittert.
»Siehst du dich imstande, Bruder Joan, das Amt des Inquisitors auszuüben?«
»Ja«, versicherte Joan. Der Prior musterte ihn von oben bis unten. »Ich muss nur aus Barcelona weg, dann werde ich mich erholen.«
»Nun denn. Nächste Woche wirst du in den Norden reisen.«
Sein Ziel war eine Reihe kleiner Bauerndörfer tief im Gebirge, deren Bewohner der Ankunft des Inquisitors mit Angst entgegensahen. Seine Anwesenheit war nichts Neues für sie. Seit Papst Innozenz IV. vor über hundert Jahren Ramon de Penyafort damit beauftragt hatte, die Inquisition in das Königreich Aragón und das Fürstentum Narbonne zu tragen, litten diese Dörfer unter den Nachforschungen der schwarzen Mönche. Die meisten Lehren, die von der Kirche als häretisch betrachtet wurden, kamen von Frankreich nach Katalonien. Zunächst waren es die Katharer und Waldenser gewesen, dann die Begarden und schließlich die vom französischen König verfolgten Templer. Die Grenzgebiete gerieten als erste unter den Einfluss häretischer Lehren, Adlige wurden angeklagt und hingerichtet, etwa der Vicomte Arnau und seine Gemahlin Ermessenda, Ramon de Cadí oder Guillem de Niort, Amtsrichter des Grafen Nunó Sanç in Cerdaña und Coflent – Gegenden, in denen nun auch Bruder Joan seinem Auftrag nachkommen sollte.
»Euer Exzellenz«, wurde er in einem dieser Dörfer von einem Komitee der Dorfältesten empfangen, während diese vor ihm niederknieten.
»Ich bin keine Exzellenz«, entgegnete Joan und bedeutete ihnen, sich zu erheben. »Nennt mich einfach Bruder Joan.«
Seine kurze Erfahrung zeigte ihm, dass sich diese Szene stets wiederholte. Die Nachricht von der Ankunft des Inquisitors, des Schreibers, der ihn begleitete, und eines halben Dutzends Soldaten des Sanctum Officium war ihnen vorausgeeilt. Sie standen auf dem kleinen Dorfplatz. Joan betrachtete die vier Männer, die noch immer die Köpfe gesenkt hielten. Sie hatten ihre Kopfbedeckungen abgenommen und traten nervös von einem Fuß auf den anderen. Sonst befand sich niemand auf dem Platz. Doch Joan wusste, dass heimlich viele Augen auf ihn gerichtet waren. So viel hatten sie zu verbergen?
Nach der Begrüßung würde das Übliche kommen. Man würde ihnen die beste Unterkunft im Dorf anbieten, wo ein reichgedeckter Tisch auf ihn warten würde, zu reich gedeckt für die Möglichkeiten dieser Leute.