»Sie werden sich davongeschlichen haben«, mutmaßte ein anderer.
»Und die Kinder?«, setzte ein Dritter hinzu. »Bestimmt haben sie auch ein Christenkind entführt, um es zu kreuzigen und sein Herz zu essen …«
»Und sein Blut zu trinken.«
Arnau sah wie gebannt zu dem Grüppchen wutentbrannter Adliger hinüber. Wie konnten sie nur so etwas glauben? Er begegnete erneut Elionors Blick. Sie lächelte.
»Deine Freunde«, wiederholte seine Frau mit Nachdruck.
In diesem Moment begann in der Kirche der Ruf nach Rache laut zu werden. »Auf zum Judenviertel!«, stachelten sie sich gegenseitig an, »Ketzer!« und »Gotteslästerer!« brüllend. Arnau sah, wie sie zum Ausgang der Kirche drängten. Die Adligen blieben zurück.
»Wenn du dich nicht beeilst«, hörte er Elionor sagen, »kommst du nicht mehr ins Judenviertel.«
Arnau betrachtete seine Frau, dann sah er zu seiner Madonna auf. Das Geschrei begann sich in der Calle de la Mar zu verlieren.
»Warum dieser Hass, Elionor? Hast du nicht alles, was du willst?«
»Nein, Arnau, und das weißt du. Ich will das, was du deinen Judenfreunden gibst.«
»Was meinst du damit?«
»Dich, Arnau, dich. Du weißt genau, dass du noch nie deinen ehelichen Pflichten nachgekommen bist.«
Arnau erinnerte sich, wie oft er Elionors Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte, zuerst zaghaft, um sie nicht zu verletzen, später schroff und ohne lange Umschweife.
»Der König hat mich gezwungen, dich zu heiraten. Von der Befriedigung deiner Bedürfnisse hat er nichts gesagt«, warf er ihr entgegen.
»Der König vielleicht nicht«, entgegnete sie, »wohl aber die Kirche.«
»Gott kann mich nicht zwingen, mich zu dir zu legen!«
Elionor nahm die Worte ihres Mannes mit starrem Blick auf. Dann wandte sie den Kopf langsam in Richtung Hauptaltar. Sie waren alleine in der Kirche zurückgeblieben, mit Ausnahme von drei Priestern, die schweigend die Auseinandersetzung des Ehepaares mitverfolgten. Auch Arnau sah zu den drei Priestern hinüber. Als sich die Blicke der Ehepartner erneut trafen, kniff Elionor die Augen zusammen.
Sie sagte nichts mehr. Arnau kehrte ihr den Rücken und ging zum Ausgang der Kirche.
»Geh doch zu deiner jüdischen Geliebten!«, schrie ihm Elionor hinterher.
Ein Schauder lief Arnau über den Rücken.
In diesem Jahr bekleidete Arnau erneut das Amt des Seekonsuls. In Festtagskleidung machte er sich auf den Weg zum Judenviertel. Während er durch die Calle de la Mar zur Plaza del Blat und von dort die Bajada de la Presó hinunter zur Kirche Sant Jaume ging, wurden die Schreie der Menge immer lauter. Das Volk schrie nach Rache und drängte sich vor den von königlichen Soldaten geschützten Toren des Judenviertels. Trotz des Tumults gelangte Arnau problemlos durch die Menge.
»Das Judenviertel darf nicht betreten werden, ehrenwerter Herr Konsul«, sagte der Hauptmann der Wache. »Wir warten auf Anweisungen des königlichen Statthalters, Infant Don Juan, König Pedros Sohn.«
Und die Anweisungen kamen. Am nächsten Morgen ordnete der Infant an, alle Juden Barcelonas ohne Wasser und Nahrung in der großen Synagoge einzusperren, bis sich diejenigen stellten, die den Hostienfrevel begangen hatten.
»Fünftausend Menschen«, murmelte Arnau in seinem Arbeitszimmer in der Börse, als man ihm die Nachricht überbrachte. »Fünftausend Menschen in der Synagoge zusammengepfercht, ohne Wasser und ohne Nahrung! Was wird aus den Kindern, den Neugeborenen? Was erhofft sich der Infant davon? Wie kann man so dumm sein, zu erwarten, dass sich ein Jude für schuldig erklärt, eine Hostie entweiht zu haben? Wie blöd muss man sein, um zu glauben, dass jemand sein eigenes Todesurteil unterschreibt?«
Arnau schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. Der Diener, der ihm die Nachricht überbracht hatte, zuckte zusammen.
»Ruf die Wachen«, wies er ihn an.
Der Seekonsul eilte in Begleitung eines halben Dutzends bewaffneter Missatges durch die Stadt. Die Tore zum Judenviertel standen weit offen, immer noch von königlichen Soldaten bewacht. Die Menge davor hatte sich zerstreut, doch an die hundert Schaulustige versuchten trotz der Stöße und Hiebe der Soldaten einen Blick ins Innere zu erhaschen.
»Wer ist hier zuständig?«, fragte Arnau den Hauptmann vor dem Portal.
»Der Stadtrichter. Er ist drinnen«, antwortete dieser.
»Gebt ihm Bescheid.«
Kurz darauf erschien der Stadtrichter.
»Was willst du hier, Arnau?«, erkundigte er sich, während er ihm die Hand reichte.
»Ich möchte mit den Juden sprechen.«
»Der Infant hat angeordnet, dass …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Arnau. »Genau deshalb muss ich mit ihnen sprechen. Viele meiner Geschäfte betreffen die Juden. Ich muss mit ihnen sprechen.«
»Aber der Infant …«, begann der Stadtrichter erneut.
»Der Infant lebt von den Juden im Land! Zwölftausend Sueldos jährlich müssen sie ihm auf Geheiß des Königs zahlen.« Der Stadtrichter nickte. »Der Infant mag ein Interesse daran haben, die Schuldigen der Hostienschändung ausfindig zu machen, doch du kannst gewiss sein, dass er auch ein Interesse daran hat, dass die Geschäfte der Juden weiterlaufen. Vergiss nicht, dass die Juden von Barcelona den größten Beitrag zu den zwölftausend Sueldos leisten.«
Der Stadtrichter hatte nichts weiter zu entgegnen und ließ Arnau und seine Begleiter passieren.
»Sie sind in der großen Synagoge«, erklärte er.
»Ich weiß.«
Obwohl sämtliche Juden eingesperrt waren, herrschte im Judenviertel reges Treiben. Im Vorübergehen sah Arnau, wie ein Schwarm schwarzgekleideter Mönche auf der Suche nach der blutenden Hostie jedes einzelne jüdische Haus durchsuchte.
Vor den Toren der Synagoge hielten königliche Soldaten Wache.
»Ich muss mit Hasdai Crescas sprechen.«
Der Hauptmann wollte widersprechen, doch der Wachsoldat, der sie zur Synagoge begleitet hatte, nickte zustimmend.
Während er auf Hasdai wartete, betrachtete Arnau das Judenviertel. Vor den Häusern, deren Türen sämtlich offen standen, bot sich ein trauriges Schauspiel. Die Mönche gingen ein und aus, beladen mit Gegenständen, die sie anderen Mönchen zeigten. Diese begutachteten die Fundstücke und schüttelten die Köpfe, um die Objekte dann auf den Boden zu werfen, der bereits mit den Besitztümern der Juden übersät war. »Wer schändet hier was?«, fragte sich Arnau.
»Ehrenwerter Konsul«, hörte er eine Stimme hinter sich sagen.
Arnau drehte sich um. Vor ihm stand Hasdai. Er sah in die Augen seines Freundes, die sich mit Tränen füllten, als er sah, wie ihr persönlicher Besitz geplündert wurde. Arnau befahl sämtlichen Soldaten, sich zurückzuziehen. Die Missatges gehorchten, die königlichen Soldaten hingegen rührten sich nicht von der Stelle.
»Interessiert ihr euch für die Angelegenheiten des Seekonsulats?«, fragte Arnau. »Geht zu meinen Männern. Die Angelegenheiten des Konsulats sind geheim.«
Widerstrebend gehorchten die Soldaten. Arnau und Hasdai sahen sich an.
»Ich würde dich gerne umarmen«, sagte Arnau, als sie niemand mehr hören konnte.
»Besser nicht.«
»Wie geht es euch?«
»Schlecht, Arnau. Sehr schlecht. Wir Alten sind nicht wichtig, und die Jungen werden durchhalten, aber die Kinder haben seit Stunden nichts gegessen und getrunken. Es sind einige Neugeborene darunter. Wenn den Müttern die Milch versiegt … Wir sind erst seit einigen Stunden eingeschlossen, doch die Bedürfnisse des Körpers …«
»Kann ich euch helfen?«
»Wir haben versucht zu verhandeln, aber der Stadtrichter will uns nicht anhören. Du weißt, dass es nur einen Weg gibt: Erkaufe unsere Freiheit.«
»Wie viel soll ich …?«
Hasdais Blick hinderte ihn am Weitersprechen. Wie viel war das Leben von fünftausend Juden wert?
»Ich vertraue auf dich, Arnau. Meine Gemeinde ist in Gefahr.«