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Der Stadtrichter hatte Arnaus Argumente abgewogen und schließlich eingewilligt. Fünfundzwanzigtausend Libras und fünfzehn Schuldige! So hatte das Angebot des Stadtrichters am nächsten Tag gelautet, nachdem er Rücksprache am Hof des Infanten Don Juan gehalten hatte.

»Fünfzehn Schuldige? Ihr wollt wegen der Heimtücke von vier Lügnern fünfzehn Menschen hinrichten?«

Der Stadtrichter hieb mit der Faust auf den Tisch.

»Diese Lügner sind die heilige katholische Kirche.«

»Du weißt genau, dass das nicht stimmt«, entgegnete Arnau.

Die beiden Männer sahen sich an.

»Keine Schuldigen«, erklärte Arnau.

»Unmöglich. Der Infant …«

»Keine Schuldigen! Fünfundzwanzigtausend Libras sind ein Vermögen.«

Arnau verließ den Palast des Stadtrichters ohne festes Ziel. Was sollte er Hasdai sagen? Dass fünfzehn von ihnen sterben sollten? Aber er bekam das Bild der fünftausend Menschen nicht aus dem Kopf, die ohne Wasser und ohne Nahrung in einer Synagoge eingepfercht waren …

»Wann kann ich mit einer Antwort rechnen?«, fragte er den Stadtrichter.

»Der Infant ist auf der Jagd.«

Auf der Jagd! Fünftausend Menschen wurden auf sein Geheiß gefangen gehalten, und er war zur Jagd gegangen. Von Barcelona zu den Besitzungen des Infanten in Gerona, der zugleich Graf von Gerona und Cervera war, waren es nicht mehr als drei Stunden zu Pferde, doch Arnau musste bis zum Abend des folgenden Tages warten, bevor er zum Stadtrichter bestellt wurde.

»Fünfunddreißigtausend Libras und fünf Schuldige.«

Tausend Libras für jeden Schuldigen weniger. Vielleicht war das der Preis eines Menschen, dachte Arnau.

»Vierzigtausend ohne Schuldige.«

»Nein.«

»Ich werde mich an den König wenden.«

»Du weißt doch, dass der König genug mit dem Krieg gegen Kastilien zu tun hat, um sich nicht auch noch mit seinem Sohn herumzuärgern. Schließlich hat er ihn zu seinem Stellvertreter ernannt.«

»Fünfundvierzigtausend, aber ohne Schuldige.«

»Nein, Arnau, nein …«

»Frag ihn!«, entfuhr es Arnau. »Ich bitte dich«, setzte, er, milder, hinzu.

Der Gestank, der aus der Synagoge drang, schlug Arnau bereits entgegen, als er noch ein gutes Stück entfernt war. In den Gassen des Judenviertels sah es noch verheerender aus als beim letzten Mal. Überall lagen Möbel und Hausrat der Juden herum. Aus dem Inneren der Häuser war das Hämmern der schwarzen Mönche zu hören, die auf der Suche nach dem Leib Christi Wände und Fußböden aufmeißelten. Arnau musste sich zusammenreißen, um ruhig zu erscheinen, als er Hasdai entgegentrat, der diesmal in Begleitung zweier Rabbiner und weiterer Vertreter der Gemeinde war. Arnaus Augen brannten. War es wegen des beißenden Uringestanks, der aus der Synagoge drang, oder wegen der Nachrichten, die er ihnen überbringen musste?

Arnau beobachtete die Männer, die ihre Lungen mit frischer Luft füllten, während aus dem Gebäude Jammern und Stöhnen zu hören war. Wie mochte es da drinnen sein? Die Männer blickten auf die verwüsteten Straßen des Judenviertels, und für einen Moment stockte ihnen der Atem.

»Sie fordern Schuldige«, sagte Arnau, als sich die fünf wieder gefasst hatten. »Wir haben mit fünfzehn begonnen. Jetzt sind wir bei fünf, und ich habe die Hoffnung, dass …«

»Wir können nicht länger warten, Arnau Estanyol«, unterbrach ihn einer der Rabbiner. »Heute ist ein alter Mann gestorben. Er war krank, aber unsere Ärzte konnten nichts für ihn tun, sie konnten ihm nicht einmal die Lippen benetzen. Sie erlauben uns nicht, ihn zu bestatten. Weißt du, was das bedeutet?« Arnau nickte. »Morgen wird sich der Verwesungsgestank breitmachen …«

»Wir können uns kaum rühren in der Synagoge«, sagte Hasdai. »Die Leute können nicht aufstehen, um ihre Notdurft zu verrichten. Die Mütter haben keine Milch mehr. Sie haben die Neugeborenen und auch die anderen Kinder gesäugt, um ihren Durst zu stillen. Wenn wir noch lange warten, sind fünf Schuldige eine Kleinigkeit.«

»Und fünfundvierzigtausend Libras«, ergänzte Arnau.

»Was interessiert uns das Geld, wenn uns allen der Tod droht?«, erklärte der andere Rabbiner.

»Und nun?«, fragte Arnau.

»Versuch es weiter, Arnau«, bat ihn Hasdai.

Zehntausend Libras mehr machten dem Boten des Infanten Beine – vielleicht machte er sich gar nicht erst auf den Weg. Arnau wurde am nächsten Morgen vorgeladen. Drei Schuldige.

»Sie sind Menschen!«, hielt Arnau dem Stadtrichter vor.

»Sie sind Juden, Arnau. Sie sind nur Juden. Ketzer im Eigentum der Krone. Ohne die Gunst des Königs wären sie längst tot, und nun hat der König beschlossen, dass drei von ihnen für den Hostienfrevel büßen sollen. Das Volk verlangt danach.«

Seit wann gab der König etwas auf die Meinung seines Volkes?, dachte Arnau.

»Außerdem wären damit die Probleme des Seekonsulats gelöst«, erklärte der Stadtrichter.

Der Leichnam des alten Mannes, die ausgedörrten Brüste der Mütter, die weinenden Kinder, das Stöhnen und der Gestank – das alles bewegte Arnau dazu, dem Vorschlag zuzustimmen. Der Stadtrichter lehnte sich in seinem Lehnstuhl zurück.

»Zwei Bedingungen«, ergänzte Arnau und zwang seinen Gesprächspartner erneut zur Aufmerksamkeit. »Sie wählen die Schuldigen selbst aus.« Der Stadtrichter nickte. »Und der Bischof muss der Vereinbarung zustimmen und zusichern, dass er die Gläubigen beruhigt.«

»Das habe ich bereits veranlasst, Arnau. Glaubst du, ich sähe gerne ein neuerliches Blutbad im Judenviertel?«

Die Prozession machte sich im Judenviertel auf den Weg. Die Fenster und Türen der Häuser waren verschlossen und die mit Mobiliar übersäten Straßen menschenleer. Die Stille im Judenviertel stand im Kontrast zu dem Lärm, der vor den Toren herrschte, wo sich eine Menschenmenge um den im Mittelmeerlicht goldschimmernden Bischof und eine Unzahl von Priestern und schwarzen Mönchen drängten. Zwei Reihen Soldaten trennten die Geistlichen vom Volk.

Ein Schrei erhob sich in den Himmel, als die drei Gestalten vor den Toren des Judenviertels erschienen. Die Leute reckten die geballten Fäuste in die Höhe, und ihre Schmährufe gingen in dem metallischen Geräusch unter, mit dem die Soldaten ihre Schwerter zogen, um den Zug zu schützen. Zwei Reihen schwarzer Mönche nahmen die an Händen und Füßen gefesselten Gestalten in ihre Mitte, und angeführt durch den Bischof von Barcelona, setzte sich die Prozession in Bewegung. Die Gegenwart der Soldaten und der Dominikanermönche konnte nicht verhindern, dass das Volk die drei Beschuldigten, die sich mühsam voranschleppten, mit Steinen bewarf und bespuckte.

Arnau befand sich in der Kirche Santa María, um zu beten. Er hatte die Nachricht ins Judenviertel gebracht, wo er von Hasdai, den Rabbinern und den Vertretern der Gemeinde vor der Synagoge empfangen wurde.

»Drei Schuldige«, sagte er und versuchte, ihre Blicke auszuhalten. »Ihr … Ihr könnt sie selbst auswählen.«

Niemand sagte ein Wort. Sie betrachteten einfach die Gassen des Judenviertels, in Gedanken bei dem Jammern und Klagen, das aus dem Gotteshaus drang. Arnau hatte nicht den Mut, ein weiteres Mal zu verhandeln, und rechtfertigte sich vor dem Stadtrichter, als er aus dem Judenviertel kam.

»Es sind drei Unschuldige. Du weißt genauso gut wie ich, dass die Sache mit der Hostienschändung nicht stimmt.«

Arnau hörte das Johlen der Menge entlang der Calle de la Mar. Es erfüllte die Kirche, drang durch die noch unvollendeten Portale und stieg über die hölzernen Gerüste bis in die Gewölbekuppeln hinauf. Drei Unschuldige! Wie mochten sie ihre Wahl getroffen haben? Hatten die Rabbiner entschieden oder hatten sich Freiwillige gefunden? Auf einmal dachte Arnau daran, wie Hasdai die Gassen des Judenviertels betrachtet hatte. Was war es, das er in seinen Augen gesehen hatte? Resignation? War es nicht der Blick eines Menschen gewesen, der … der sich verabschiedete? Arnau zitterte. Seine Beine gaben nach und er musste sich an der Bank festklammern. Die Prozession näherte sich Santa María. Das Johlen wurde lauter. Arnau erhob sich und sah zu dem Portal hinüber, das auf den Vorplatz führte. Die Prozession würde gleich dort eintreffen. Er blieb in der Kirche und sah auf den Platz hinaus, bis die Schmährufe der Leute ganz nah waren.