»Genügt dir meine Ermächtigung?«
Der Angestellte sah Joan an.
»Es muss sein, Remigi.«
»Ich denke schon«, gab der Angestellte schließlich nach. »Im Grunde würden wir kein Geld verlieren. Wir würden lediglich die Geschäfte verlagern. Wenn Arnau nicht beteiligt ist, werden sie beruhigt sein. Aber Ihr müsst mir Eure schriftliche Ermächtigung geben.«
Joan unterschrieb das Dokument, das Remigi vorbereitete.
»Sorge dafür, dass morgen früh Bargeld da ist«, sagte er, während er sein Unterschrift daruntersetzte. »Wir brauchen unbedingt Bargeld«, erklärte er angesichts des Blicks des Angestellten. »Verkaufe irgendetwas unter Preis, wenn es sein muss, aber wir brauchen dieses Geld.«
Nachdem Joan die Wechselstube verlassen und die Gläubiger erneut zum Schweigen gebracht hatte, machte sich Remigi daran, die laufenden Warengeschäfte durchzusehen. Noch am gleichen Tag nahm das letzte Schiff, das den Hafen von Barcelona verließ, Instruktionen für alle Handelsvertreter Arnaus rings um das Mittelmeer mit. Remigi handelte schnell. Am nächsten Tag würden die zufriedengestellten Gläubiger Arnaus neue Geschäftssituation in der Stadt bekannt machen.
48
Zum ersten Mal seit fast einer Woche trank Arnau frisches Wasser und aß etwas anderes als trockenes Brot. Der Kerkermeister zwang ihn mit einem Tritt zum Aufstehen und kippte einen Eimer Wasser über den Fußboden. Besser nass als mit Exkrementen übersät, dachte Arnau. Für einige Sekunden waren nur das Plätschern des Wassers und der schwere Atem des dicken Kerkermeisters zu hören. Bis die alte Frau, die sich in ihren Tod ergeben hatte und ihr Gesicht immer in ihrer zerlumpten Kleidung verbarg, zu Arnau aufsah.
»Lass den Eimer da«, sagte Arnau zu dem Kerkermeister, als dieser gehen wollte.
Arnau hatte gesehen, wie er Gefangene misshandelte, nur weil sie seinen Blick erwiderten. Der Wärter fuhr mit erhobenem Arm herum, doch dann hielt er in der Bewegung inne. Arnau hatte dem Schlag reglos entgegengesehen. Der Mann spuckte aus und stellte den Eimer auf den Boden. Bevor er ging, trat er nach einer der Gestalten, die die Szene beobachteten.
Als die Erde das Wasser aufgesogen hatte, setzte Arnau sich wieder hin. Draußen war Glockenläuten zu hören. Das schwache Tageslicht, das durch das von außen ebenerdige Fenster drang, und das Läuten der Glocken waren seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Arnau sah zu dem kleinen Fenster hoch und lauschte aufmerksam. Santa María war lichtdurchflutet, doch die Kirche besaß noch keine Glocken. Dafür waren das Hämmern und Meißeln und die Rufe der Handwerker weithin zu hören. Wenn das Echo eines dieser Geräusche in den Kerker drang, hüllten ihn das Licht und der Klang ein und trugen ihn in Gedanken zu jenen, die so eifrig für die Madonna des Meeres arbeiteten. Dann spürte Arnau erneut das Gewicht des ersten Steins auf den Schultern, den er nach Santa María geschleppt hatte. Wie lange war das her? Wie sehr hatte sich alles verändert! Damals war er ein Kind gewesen, ein Kind, das in der Jungfrau Maria die Mutter fand, die es niemals gehabt hatte.
Immerhin war es ihm gelungen, Raquel vor dem furchtbaren Schicksal zu bewahren, zu dem sie verurteilt zu sein schien. Gleich nachdem er beobachtet hatte, wie Elionor und Margarida Puig mit den Fingern auf sie zeigten, sorgte Arnau dafür, dass Raquel und ihre Familie aus dem Judenviertel verschwanden. Nicht einmal er selbst wusste, wohin sie geflohen waren.
»Ich möchte, dass du zu Mar gehst«, sagte er zu Joan, als dieser ihn wieder besuchte.
Der Mönch erstarrte. Er war noch einige Schritte von seinem Bruder entfernt.
»Hast du gehört, Joan?« Arnau erhob sich, um ihm entgegenzugehen, doch die Ketten an seinen Füßen hinderten ihn daran. Joan stand immer noch reglos da. »Joan, hast du gehört?«
»Ja.« Joan trat auf Arnau zu, um ihn zu umarmen. »Aber …«
»Ich muss sie sehen, Joan.« Arnau packte den Mönch bei den Schultern, bevor dieser ihn umarmen konnte, und schüttelte ihn sanft. »Ich will nicht sterben, ohne noch einmal mit ihr gesprochen zu haben.«
»Himmel, sag doch nicht so etwas!«
»Doch, Joan. Ich könnte hier verrecken, und nur ein Dutzend hoffnungsloser Unglücklicher wären Zeugen. Ich will nicht sterben, ohne die Möglichkeit bekommen zu haben, Mar noch einmal zu sehen.«
»Aber was willst du ihr sagen? Was kann so wichtig sein?«
»Ich will sie um Vergebung bitten, Joan. Und ihr sagen, dass ich sie liebe.« Joan versuchte, sich aus dem Griff seines Bruders zu lösen, doch Arnau hinderte ihn daran. »Du kennst mich. Du bist ein Mann Gottes. Du weißt, dass ich nie jemandem etwas zuleide getan habe. Nur diesem Mädchen …«
Es gelang Joan, sich loszumachen. Er fiel vor seinem Bruder auf die Knie.
»Nicht du warst es«, begann er.
»Ich habe nur dich, Joan«, fiel ihm Arnau ins Wort und kniete gleichfalls nieder. »Du musst mir helfen. Du hast mich nie im Stich gelassen. Tu es auch jetzt nicht. Du bist alles, was ich habe, Joan!«
Joan schwieg.
»Und ihr Mann?«, fragte er schließlich. »Vielleicht gestattet er nicht, dass …«
»Er ist tot«, erklärte Arnau. »Ich habe davon erfahren, als er aufhörte, seine Zinsen bei mir zu zahlen. Er starb im Dienst des Königs bei der Verteidigung Calatayuds.«
»Aber …«, machte Joan einen erneuten Anlauf.
»Joan, ich bin durch einen Schwur an meine Ehefrau gebunden, der es mir verbietet, mit Mar zusammen zu sein, solange sie lebt. Aber ich muss sie sehen. Ich muss ihr meine Gefühle offenbaren, selbst wenn wir nie zusammenkommen können.« Arnau fasste sich wieder. Es gab noch einen Gefallen, um den er seinen Bruder bitten wollte. »Geh in der Wechselstube vorbei. Ich wüsste gerne, wie die Lage dort ist.«
Joan seufzte. Als er an diesem Morgen in die Wechselstube gekommen war, hatte Remigi ihm eine Geldbörse überreicht.
»Es war kein gutes Geschäft«, sagte der Angestellte.
Nichts war ein gutes Geschäft. Nachdem er Arnau versprochen hatte, das Mädchen aufzusuchen, bezahlte Joan an der Tür des Verlieses den Kerkermeister.
»Er hat einen Eimer verlangt.«
Wie viel kostete wohl ein Eimer? Joan drückte dem Mann eine weitere Münze in die Hand.
»Ich will, dass der Eimer immer sauber ist.« Der Kerkermeister steckte das Geld ein und wandte sich zum Gehen. »Da drin liegt ein toter Gefangener«, setzte Joan hinzu.
Der Wärter zuckte nur mit den Schultern.
Joan verließ den Bischofspalast nicht, sondern ging geradewegs zu Nicolau Eimeric. Er kannte diese Gänge. Wie oft hatte er sie in jungen Jahren durchmessen, voller Stolz auf seinen Einfluss? Nun waren es andere, tadellos gekleidete junge Priester, die ihm in den Gängen begegneten und die sich keine Mühe gaben, bei seinem Anblick ihr Befremden zu verbergen.
»Hat er gestanden?«
Er hatte ihm versprochen, Mar zu suchen.
»Hat er gestanden?«, fragte der Generalinquisitor noch einmal.
Joan hatte sich die ganze Nacht auf dieses Gespräch vorbereitet, doch nun war alles, was er sich überlegt hatte, wie weggeblasen.
»Wenn er gestände, welche Strafe würde ihn erwarten?«
»Ich sagte dir ja bereits, dass es sich um eine sehr ernste Angelegenheit handelt.«
»Mein Bruder ist sehr reich.«
Joan hielt Nicolau Eimerics Blick stand.
»Hast du vor, das Sanctum Officium zu kaufen? Du, ein Inquisitor?«
»Geldstrafen sind durchaus üblich. Ich bin sicher, wenn man Arnau eine Geldstrafe vorschlüge …«
»Du weißt, dass dies von der Schwere des Vergehens abhängt. Die Vorwürfe gegen ihn …«
»Elionor kann ihm nichts vorwerfen«, wandte Joan ein.
Der Generalinquisitor erhob sich und beugte sich zu Joan, die Hände auf den Tisch gestützt.
»Dann wisst ihr also beide«, sagte er und erhob die Stimme, »dass es die Ziehtochter des Königs war, die ihn angezeigt hat. Seine eigene Ehefrau, die Ziehtochter des Königs! Wie kommt ihr darauf, dass sie es war, wenn dein Bruder nichts zu verbergen hat? Welcher Mann verdächtigt seine eigene Ehefrau? Warum nicht einen Geschäftspartner, einen Angestellten oder einen Nachbarn? Wie viele Menschen hat Arnau in seiner Funktion als Seekonsul verurteilt? Weshalb sollte es nicht einer von ihnen gewesen sein? Antworte, Bruder Joan: Warum die Baronin? Welche Sünde verheimlicht dein Bruder, dass er weiß, dass sie es war?«