»Warum?«, hatte er gefragt, als man ihm befahl, die Hexe weit weg von Arnau anzuketten.
»Diese Hexe ist die Mutter des Geldwechslers«, antwortete ihm der Inquisitionsbeamte. So jedenfalls hatte es ihm der Hauptmann des Herrn von Bellera erklärt.
»Du musst nicht glauben, dass für den gleichen Preis auch deine Mutter besseres Essen bekommt«, sagte der Kerkermeister, als er vor Arnau stand. »Sie mag deine Mutter sein, aber eine Hexe kostet Geld, Arnau Estanyol.«
Das Gehöft mit dem angebauten Wehrturm stand unverändert auf der kleinen Anhöhe. Joan sah zu ihm hinauf und glaubte erneut das nervöse Gemurmel der Soldaten zu hören, das Klirren der Schwerter und die Jubelrufe, als er selbst Arnau an genau dieser Stelle davon überzeugt hatte, Mars Verheiratung zuzustimmen. Er hatte sich nie gut mit dem Mädchen verstanden. Was sollte er ihr jetzt sagen?
Joan blickte zum Himmel und schlich dann gebeugt und mit gesenktem Kopf den Hügel hinauf. Der Saum seiner Kutte schleifte über die Erde.
Das Gehöft wirkte verlassen. Nur das Widerkäuen der Tiere im ebenerdigen Stall war zu hören.
»Ist jemand da?«, rief Joan.
Er wollte noch einmal rufen, als er eine Bewegung bemerkte. Hinter einer Ecke des Gehöfts lugte ein kleiner Junge hervor und sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
»Komm her, Junge«, befahl ihm Joan.
Das Kind zögerte.
»Komm schon …«
»Was ist los?«
Joan wandte sich zu der Außentreppe um, die ins Obergeschoss führte. Oben an der Treppe stand Mar und sah ihn fragend an.
Die beiden standen lange da, ohne etwas zu sagen. Joan versuchte in dieser Frau das Mädchen wiederzuerkennen, das er Felip de Ponts ausgeliefert hatte, doch von der Gestalt ging eine Strenge aus, die wenig mit den überschwänglichen Gefühlen gemeinsam hatte, die er vor fünf Jahren in diesem Gehöft erlebt hatte. Die Zeit verging und Joan sank immer mehr der Mut. Mar starrte ihn stumm an, ohne sich zu rühren.
»Was willst du hier?«, fragte sie schließlich.
»Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.« Joan musste die Stimme erheben.
»Ich wüsste nicht, was du mir zu sagen hättest.«
Mar wollte sich umdrehen, doch Joan beeilte sich, ihr zuvorzukommen.
»Ich habe Arnau versprochen, mit dir zu reden.« Anders als Joan erwartet hatte, schien Mar die Erwähnung von Arnau nicht weiter zu berühren. Aber sie ging auch nicht weg. »Hör mich an. Nicht ich will mit dir reden.« Joan wartete einen Moment. »Darf ich raufkommen?«
Mar kehrte ihm den Rücken zu und ging ins Haus. Bevor er die Treppe hinaufging, sah Joan erneut zum Himmel. War das wirklich die Strafe, die er verdiente?
Beim Eintreten räusperte er sich, um auf sich aufmerksam zu machen. Mar stand am Herd und rührte in einem Topf, der an einem Kesselhaken über dem Feuer hing.
»Sprich«, sagte sie knapp.
Joan betrachtete ihren über den Herd gebeugten Rücken. Das Haar fiel ihr offen über die Schultern und reichte ihr fast bis zu den Hüften, die sich fest und wohlgeformt unter dem Kittel abzeichneten. Sie war eine Frau geworden … eine attraktive Frau.
»Du sagst nichts?«, fragte Mar und wandte ihm für einen Moment den Kopf zu.
Wie sollte er beginnen?
»Arnau wurde von der Inquisition verhaftet«, sagte der Dominikaner unvermittelt.
Mar hörte auf, in dem Topf zu rühren.
Joan schwieg.
Die Stimme schien aus den Flammen zu kommen, zitternd, brüchig: »Wir Frauen sind schon immer Gefangene gewesen.«
Mar stand nach wie vor mit dem Rücken zu Joan, aufrecht, mit hängenden Armen, den Blick auf den Herd gerichtet.
»Es war nicht Arnau, der dich in diesen Kerker sperrte …«
Mar wandte sich brüsk um.
»War nicht er es, der mich dem Herrn von Ponts zur Frau gab?«, brach es aus ihr heraus. »War nicht er es, der in die Hochzeit einwilligte? War nicht er es, der entschied, meine verlorene Ehre nicht zu rächen? Er hat mich vergewaltigt! Er hat mich entführt und vergewaltigt.«
Sie hatte jedes Wort ausgespuckt. Sie zitterte. Alles an ihr zitterte, von der Unterlippe bis zu den Händen, die sie nun vor der Brust verschränkte. Joan konnte den Blick aus diesen geröteten Augen nicht ertragen.
»Es war nicht Arnau«, wiederholte der Mönch mit bebender Stimme. »Ich … Ich war es! Verstehst du? Ich war es. Ich habe ihn überzeugt, dass er dich verheiraten müsse. Welches Schicksal hätte ein entehrtes Mädchen erwartet? Was wäre aus dir geworden, wenn ganz Barcelona von deinem Unglück erfahren hätte? Ich war es, der auf Betreiben Elionors die Entführung vorbereitete und deiner Entehrung zustimmte, um Arnau davon zu überzeugen, dass er dich verheiraten müsse. Ich bin an allem schuld. Arnau hätte dich niemals diesem Mann überlassen.«
Die beiden sahen sich an. Joan merkte, wie ihm eine Last von den Schultern fiel. Mar hörte auf zu zittern und Tränen erschienen in ihren Augen.
»Er hat dich geliebt«, sprach Joan weiter. »Er hat dich damals geliebt und er liebt dich heute. Er braucht dich …«
Mar schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Knie knickten seitlich weg, und ihr Körper sackte in sich zusammen, bis sie vor dem Mönch auf dem Boden lag.
Das war es. Er hatte es getan. Jetzt würde Mar nach Barcelona kommen, sie würde Arnau alles erzählen, und … Er ging in die Knie, um Mar aufzuhelfen.
»Fass mich nicht an!«
Joan wich zurück.
»Was ist los, Herrin?«
Der Mönch fuhr zur Tür herum. Auf der Schwelle stand ein herkulischer Mann, mit einer Sense bewaffnet, und sah ihn drohend an. Hinter einem seiner Beine lugte der Kopf des Jungen hervor. Joan stand keine zwei Handbreit von dem Mann entfernt, der ihn beinahe um doppelte Haupteslänge überragte.
»Es ist nichts«, antwortete Joan, doch der Mann stieß ihn zur Seite, als ob er gar nicht da wäre, und ging zu Mar. »Ich sagte dir doch, es ist nichts«, beteuerte Joan. »Geh an deine Arbeit.«
Der Junge flüchtete sich vor die Tür und spähte von draußen herein. Joan beachtete ihn nicht länger. Als er sich wieder in den Raum umwandte, sah er, dass der Mann mit der Sense neben Mar kniete, ohne sie indes zu berühren.
»Hast du nicht gehört?«, fragte Joan. Der Mann gab keine Antwort. »Gehorche und geh an deine Arbeit.«
Diesmal sah der Mann Joan an.
»Ich gehorche nur meiner Herrin.«
Wie viele große, kräftige, stolze Männer wie er waren vor ihm zu Kreuze gekrochen? Wie viele hatte er weinen und flehen gesehen, bevor er das Urteil über sie sprach? Joan kniff die Augen zusammen, ballte die Fäuste und machte zwei Schritte auf den Knecht zu.
»Du wagst es, dich der Inquisition zu widersetzen?«, brüllte er.
Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Mar vom Fußboden hochfuhr. Sie zitterte erneut. Auch der Mann mit der Sense richtete sich langsam auf.
»Wie kannst du es wagen, in mein Haus zu kommen und meinem Knecht zu drohen? Inquisitor? Ha! Du bist nichts weiter als ein Teufel im Mönchsgewand. Du hast mich vergewaltigt!« Joan sah, wie der Knecht den Schaft der Sense umklammerte. »Du hast es selbst zugegeben!«
»Ich …«, begann Joan zögerlich.
Der Knecht trat auf ihn zu und drückte ihm die Spitze der Sense in die Magengrube.
»Niemand würde es erfahren, Herrin. Er ist alleine gekommen.«
Joan sah Mar an. Es war keine Angst in ihren Augen, nicht einmal Mitleid, nur … Er lief so rasch er konnte zur Tür, doch der kleine Junge schlug sie zu und stellte sich ihm in den Weg.
Der Knecht legte Joan von hinten die Sense um den Hals. Diesmal drückte die scharfe Schneide gegen den Adamsapfel des Mönchs. Joan erstarrte. Der Junge sah nicht mehr ängstlich aus. Sein Gesicht spiegelte die Gefühle wider, die sich hinter ihm abspielten.
»Was … Was willst du tun, Mar?« Als er sprach, schnitt ihm die Sense in den Hals.
Mar schwieg. Joan konnte ihren Atem hören.
»Sperr ihn in den Turm«, befahl sie.
Mar hatte den Turm nicht mehr betreten, seit sie von dort aus zugesehen hatte, wie sich das Heer von Barcelona zuerst zum Angriff formierte und dann in Jubel ausbrach. Nachdem ihr Mann in Calatayud gefallen war, hatte sie den Turm zugesperrt.