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Aledis hatte zu Boden gesehen.

»Ich weiß nicht, was ihm sein Vater über mich erzählt hat«, fuhr Francesca fort, »aber wie dem auch sei, es ist nicht wiedergutzumachen. Die Zeit lässt vieles vergessen, auch die Mutterliebe. Wenn ich an ihn denke, dann sehe ich ihn, wie er auf diesem Podest stand und den Adligen die Stirn bot. Ich will nicht, dass er meinetwegen absteigt. Es ist besser, alles so zu lassen, wie es ist, Aledis. Du und ich, wir sind die einzigen Menschen auf der Welt, die davon wissen. Ich verlasse mich darauf, dass du mein Geheimnis auch über meinen Tod hinaus wahrst. Versprich es mir, Aledis.«

Doch was war dieses Versprechen nun noch wert?

Als Esteve erneut in den Turm kam, hatte er die Sense nicht mehr dabei.

»Die Herrin sagt, du sollst dir die Augen verbinden«, sagte er zu Joan und warf ihm ein Stück Stoff hin.

»Wofür hältst du dich?«, tobte Joan und versetzte dem Stoff einen Tritt.

Das Innere des Turms war klein, nicht mehr als drei Schritt in jede Richtung. Mit einem Satz stand Esteve vor ihm und verpasste ihm zwei Ohrfeigen, eine auf jede Wange.

»Die Herrin hat gesagt, du sollst dir die Augen verbinden.«

»Ich bin Inquisitor!«

Diesmal schleuderte Esteves Ohrfeige ihn gegen die Wand. Joan sank Esteve vor die Füße.

»Binde dir das Tuch um.« Esteve zog ihn mit einer Hand hoch. »Los, mach schon«, sagte er, als Joan wieder stand.

»Glaubst du, mit Gewalt wirst du einen Inquisitor brechen? Du kannst dir nicht vorstellen, was …«

Esteve ließ ihn nicht ausreden. Zuerst schlug er ihm mit der Faust ins Gesicht, und als Joan erneut zu Boden ging, begann der Knecht ihn zu treten, in den Unterleib, in den Magen, gegen den Brustkorb, ins Gesicht.

Joan krümmte sich vor Schmerzen. Erneut zog Esteve ihn mit einer Hand hoch.

»Die Herrin sagt, du sollst dir das Tuch umbinden.«

Joan blutete aus dem Mund. Als der Knecht ihn losließ, versuchte er sich auf den Beinen zu halten, doch ein heftiger Schmerz im Knie ließ ihn zusammensacken. Er klammerte sich an Esteve fest, doch der Knecht stieß ihn zu Boden.

»Binde dir das Tuch um.«

Das Tuch lag neben ihm. Joan merkte, dass er sich in die Hosen gemacht hatte und der Habit an seinen Beinen festklebte.

Er nahm das Tuch und verband sich die Augen.

Joan hörte, wie der Knecht die Tür schloss und die Treppe hinunterging. Dann herrschte Stille. Eine Ewigkeit lang. Schließlich kamen mehrere Personen nach oben. Joan rappelte sich auf. Er hielt sich an der Wand fest. Die Tür öffnete sich. Möbel wurden hereingebracht. Stühle vielleicht?

»Ich weiß, dass du gesündigt hast.« Auf einem Schemel sitzend, hallte Mars Stimme durch den Turm. Neben ihr stand der kleine Junge und betrachtete den Mönch.

Joan schwieg.

»Die Inquisition verbindet ihren Gefangenen niemals die Augen«, sagte er schließlich.

»Das stimmt«, entgegnete Mar. »Ihr nehmt ihnen nur ihre Seele, ihre Männlichkeit, ihren Anstand, ihre Ehre. Ich weiß, dass du gesündigt hast«, wiederholte sie dann.

»Ich akzeptiere diese Farce nicht.«

Mar gab Esteve ein Zeichen. Der Knecht trat zu Joan und rammte ihm die Faust in die Magengrube. Der Mönch krümmte sich und schnappte nach Luft. Als es ihm schließlich gelang, sich wieder aufzurichten, herrschte erneut Schweigen. Durch sein eigenes Keuchen konnte er den Atem der Anwesenden nicht hören. Seine Beine und seine Brust schmerzten, sein Gesicht brannte. Niemand sagte etwas. Ein Tritt gegen die Außenseite seines Oberschenkels ließ ihn zu Boden gehen.

Als der Schmerz nachließ, lag Joan zusammengerollt wie ein Embryo auf dem Boden.

Wieder herrschte Schweigen.

Ein Tritt in die Nieren zwang ihn, diese Haltung aufzugeben.

»Was hast du vor?«, schrie Joan, während ihn der Schmerz übermannte.

Niemand antwortete, bis sein Schmerz nachließ. Dann zog der Knecht ihn hoch und stellte ihn wieder vor Mar.

Joan musste sich anstrengen, um sich auf den Beinen zu halten.

»Was hast du vor?«

»Ich weiß, dass du gesündigt hast.«

Wozu war sie fähig? Wie weit würde sie gehen? Ihn erschlagen? War sie fähig, ihn zu töten? Ja, er hatte gesündigt, doch was berechtigte Mar dazu, über ihn zu richten? Ein Zittern durchlief seinen Körper, und er war kurz davor, erneut zu Boden zu sinken.

»Du hast mich bereits verurteilt«, gelang es Joan schließlich zu sagen. »Wozu willst du noch über mich richten?«

Schweigen. Dunkelheit.

»Sag! Wozu willst du über mich richten?«

»Du hast recht«, hörte Joan schließlich. »Ich habe dich bereits verurteilt, aber denk daran, dass du deine Schuld eingestanden hast. Genau hier, wo du dich nun befindest, hat er mir meine Jungfräulichkeit geraubt. Genau hier hat er mir wieder und wieder Gewalt angetan. Häng ihn auf und lass dann seine Leiche verschwinden«, sagte Mar, an Esteve gewandt.

Mars Schritte entfernten sich auf der Treppe nach unten. Joan spürte, wie Esteve ihm die Hände auf dem Rücken fesselte. Er konnte sich nicht bewegen, sein Körper gehorchte ihm nicht. Der Knecht packte ihn und stellte ihn auf den Hocker, auf dem zuvor Mar gesessen hatte. Dann hörte er, wie ein Seil über die Deckenbalken des Turms geworfen wurde. Esteve traf nicht und das Seil klatschte auf den Boden. Joan machte sich erneut in die Hose. Er hatte das Seil um den Hals liegen.

»Ich habe gesündigt!«, schrie Joan mit letzter Kraft.

Mar hörte den Schrei am Fuß der Treppe.

Endlich.

Gefolgt von dem Jungen, stieg Mar wieder in den Turm hinauf.

»Jetzt höre ich dir zu«, sagte sie zu Joan.

Im Morgengrauen brach Mar nach Barcelona auf. Angetan mit ihren besten Kleidern und dem wenigen Schmuck, den sie besaß, das offene Haar frisch gewaschen, ließ sie sich von Esteve auf ein Maultier heben und stieß dem Tier die Hacken in die Weichen.

»Gib gut auf das Haus acht«, sagte sie zu dem Knecht, bevor das Maultier lostrabte. »Und du hilf deinem Vater.«

Esteve stieß Joan hinter dem Maultier her.

»Los, Mönch«, sagte er.

Mit gesenktem Kopf trottete Joan hinter Mar her. Was würde nun geschehen? In der Nacht, als man ihm die Augenbinde abnahm, hatte im flackernden Licht der Fackeln, die an den halbrunden Wänden des Turms hingen, Mar vor ihm gestanden.

Sie hatte ihm ins Gesicht gespuckt.

»Du verdienst keine Gnade, aber möglicherweise wird Arnau dich brauchen«, sagte sie dann. »Nur das rettet dich davor, dass ich dich auf der Stelle mit meinen eigenen Händen töte.«

Die kleinen spitzen Hufe des Maultiers hallten dumpf auf dem Erdboden wider. Joan folgte dem gleichmäßigen Klang, den Blick auf seine eigenen Füße geheftet. Er ging mit sich selbst ins Gericht, von seinen Gesprächen mit Elionor bis zu dem Hass, mit dem er sich in die Inquisition gestürzt hatte. Dann nahm Mar ihm die Augenbinde ab und spuckte ihn an.

Das Maultier trottete fügsam in Richtung Barcelona. Joan roch das Meer, das ihn linker Hand auf seinem Bußweg begleitete.

51

Die Sonne wärmte schon, als Aledis den Gasthof verließ und sich unter die Leute auf der Plaza de la Llana mischte. Barcelona war bereits erwacht. Frauen standen mit Eimern, Töpfen und Wasserschläuchen vor dem Cadena-Brunnen gleich neben dem Gasthof an, andere warteten vor der Metzgerei am anderen Ende des Platzes. Alle schwatzten und lachten. Sie wäre gerne schon früher losgegangen, doch zuerst hatte sie sich wieder als Witwe verkleiden müssen. Dabei wurde sie mehr schlecht als recht unterstützt von den beiden Mädchen, die unablässig fragten, wie es nun weitergehe, was aus Francesca werde und ob man sie auf dem Scheiterhaufen verbrenne, wie es die beiden Adligen vorhatten. So war es später geworden. Wenigstens achtete niemand auf sie, als sie durch die Calle de la Bòria zur Plaza del Blat ging. Es war eine seltsame Erfahrung für Aledis. Sie hatte immer die bewundernden Blicke der Männer und die verächtlichen Blicke der Frauen auf sich gezogen, doch nun begegnete ihr nicht einmal ein flüchtiger Blick, während die Sonne auf ihr schwarzes Kleid brannte.