In diesem Augenblick betraten der Herr von Bellera und Genis Puig den Schankraum. Beim Anblick der beiden Mädchen erschien ein breites Lächeln auf ihren Gesichtern.
»Joan«, sagte Aledis, »diese beiden feinen Herren haben gestern meine Tochter belästigt, und ich habe den Eindruck, dass ihre Absichten alles andere als lauter sind … Könntest du mir helfen, damit sie die Mädchen nicht noch einmal behelligen?«
Joan trat zu den beiden Männern, die dastanden und Teresa und Eulàlia angafften, während sie sich an die vergangene Nacht erinnerten.
Ihr Grinsen erstarb, als sie Joans schwarzen Habit bemerkten. Der Mönch bedachte sie mit einem strengen Blick, und die Männer setzen sich schweigend an ihren Tisch und versenkten ihren Blick in den Schüsseln, die der Wirt ihnen hinstellte.
»Wie lautet die Anklage gegen Arnau?«, fragte Aledis, als sich Joan wieder zu ihnen setzte.
Sahat betrachtete das Schiff nach Marseille, während die Besatzung die letzten Vorbereitungen zum Auslaufen traf. Es war eine solide, einmastige Galeere mit einem Ruder am Heck und zwei Seitenrudern, hundertzwanzig Ruderknechten und einem Laderaum von rund dreihundert Tonnen.
»Sie ist schnell und sehr sicher«, bemerkte Filippo. »Sie hatte bereits mehrere Begegnungen mit Piraten und konnte jedes Mal entkommen. In drei oder vier Tagen bist du in Marseille.« Sahat nickte. »Dort wirst du ohne Weiteres ein Küstenschiff finden, das dich nach Barcelona bringt.«
Filippo hielt sich an Sahats Arm fest, während er mit dem Gehstock auf das Schiff zeigte. Hafenbeamte, Händler und Stauer grüßten ihn ehrfürchtig, wenn sie an ihm vorübergingen. Dasselbe taten sie auch mit Sahat, dem Mauren, auf den sich der alte Händler stützte.
»Das Wetter ist gut«, setzte Filippo hinzu und deutete mit dem Stock zum Himmel. »Es wird keine Schwierigkeiten geben.«
Der Kapitän der Galeere trat an die Reling und gab Filippo ein Zeichen. Sahat spürte, wie der alte Mann seinen Arm drückte.
»Ich habe das Gefühl, dass ich dich nicht wiedersehen werde«, sagte der betagte Händler. Sahat sah ihn an, doch Filippo packte ihn noch fester am Arm. »Ich bin ein alter Mann, Sahat.«
Die beiden Männer umarmten sich, während sie vor der Galeere standen.
»Kümmere dich um meine Geschäfte«, sagte Sahat, als er sich von ihm löste.
»Das werde ich, und wenn ich nicht mehr bin«, setzte er mit brüchiger Stimme hinzu, »werden es meine Söhne tun. Dann wirst du ihnen helfen müssen, wo immer du auch sein magst.«
»Das werde ich«, versprach Sahat seinerseits.
Filippo zog Sahat an sich und küsste ihn vor den Augen der Schaulustigen, die den letzten Passagier beobachteten, während sie auf das Ablegen der Galeere warteten, auf den Mund. Bei diesem Zuneigungsbeweis Filippo Tescios ging ein Raunen durch die Menge.
»Geh jetzt«, sagte der alte Mann.
Sahat befahl den beiden Sklaven, die sein Gepäck trugen, voranzugehen. Dann ging er selbst an Bord. Als er das Deck der Galeere erreicht hatte, war Filippo verschwunden.
Das Meer lag ruhig da. Es war windstill, und die Galeere wurde durch die Muskelkraft der hundertzwanzig Ruderer bewegt.
»Ich hatte nicht den Mut«, schrieb Jucef in seinem Brief, nachdem er die Situation nach dem angeblichen Hostienraub geschildert hatte, »das Judenviertel zu verlassen und meinen Vater in seinen letzten Momenten zu begleiten. Ich hoffe, er wird es verstehen, dort, wo er jetzt ist.«
Sahat stand im Bug der Galeere. Er blickte zum Horizont. ›Dass ihr unter Christen lebt, ist Beweis genug für deinen, für euren Mut‹, dachte er bei sich. Er hatte den Brief immer und immer wieder gelesen:
Raquel wollte nicht fliehen, aber wir haben sie davon überzeugt.
Sahat übersprang den Rest des Briefes und las erst am Ende weiter:
Gestern wurde Arnau von der Inquisition verhaftet. Heute konnte ich durch einen Juden in Erfahrung bringen, dass er sich im Bischofspalast befindet und dass es seine Frau Elionor war, die ihn der Judenfreundlichkeit bezichtigt hat. Da die Inquisition zwei Zeugen braucht, welche die Anzeige bestätigen, benannte Elionor dem Sanctum Officium mehrere Priester von Santa María del Mar, die Zeugen eines Streits zwischen den Eheleuten wurden. Es sieht ganz so aus, als könnten Arnaus Aussagen als gotteslästerlich ausgelegt werden und genügten, um Elionors Anzeige zu stützen.
Die Angelegenheit, so Jucef weiter, sei ziemlich verfahren. Zum einen sei Arnau ein sehr reicher Mann, dessen Vermögen für die Inquisition von großem Interesse sei, und zum anderen befinde er sich in den Händen eines Mannes wie Nicolau Eimeric. Sahat erinnerte sich an den hochfahrenden Inquisitor, der sechs Jahre, bevor er selbst das Prinzipat verlassen hatte, ins Amt gekommen war. Er hatte ihn einmal bei einer Messfeier gesehen, zu der er Arnau begleiten musste.
Seit du fortgegangen bist, hat Eimeric mehr und mehr Macht angehäuft. Dabei scheute er nicht einmal davor zurück, sich öffentlich mit dem König anzulegen. Der König bleibt dem Papst seit Jahren seine Abgaben schuldig, und so hat Urban V. dem Herrn von Arborea, dem Anführer des Aufstands gegen die Katalanen, Sardinien als Lehen angeboten. Nach dem langen Krieg gegen Kastilien herrscht nun erneut Unruhe unter den korsischen Adligen. Das alles hat Eimeric, der unmittelbar dem Papst unterstellt ist, dazu genutzt, den König direkt anzugreifen. Unter anderem fordert er größere Befugnisse für die Inquisition gegenüber Juden und anderen Nichtchristen, was der König als Besitzer der Judengemeinden Kataloniens rundheraus ablehnt. Doch Eimeric setzt den Papst immer wieder unter Druck, und diesem liegt nicht eben viel daran, die Interessen unseres Königs zu verteidigen. Aber nicht genug damit, dass er gegen die Interessen des Königs Einflussnahme in den jüdischen Gemeinden verlangt, hat Eimeric es gewagt, die Werke des katalanischen Theologen Ramon Llull als ketzerisch zu brandmarken, nachdem diese mehr als ein halbes Jahrhundert lang von der katalanischen Kirche anerkannt wurden. Der König hat Juristen und Gelehrte mit seiner Verteidigung betraut, denn für ihn kommt die Angelegenheit einer persönlichen Beleidigung durch den Inquisitor gleich.
In Anbetracht dieser Umstände glaube ich, dass Eimeric versuchen wird, den Prozess gegen Arnau, einen katalanischen Baron und Seekonsul von Barcelona, als neuerlichen Affront gegen den König zu nutzen, um seine eigene Position weiter auszubauen und ein beträchtliches Vermögen für die Inquisition zu sichern. Soweit ich weiß, hat Eimeric bereits an Papst Urban geschrieben, um ihm mitzuteilen, dass er den Anteil des Königs an Arnaus Besitz einbehalten werde, um damit die ausstehenden Kirchensteuern König Pedros zu begleichen. Auf diese Weise rächt sich der Inquisitor mittels eines katalanischen Barons am König und sichert gleichzeitig seine eigene Stellung beim Papst.
Auch Arnaus persönliche Situation ist schwierig, wenn nicht gar verzweifelt. Sein Bruder Joan ist Inquisitor, berüchtigt für seine Grausamkeit. Seine eigene Frau hat ihn angezeigt. Mein Vater ist tot, und in Anbetracht der Anklage wegen Judenfreundlichkeit können wir ihm zu seinem eigenen Besten unsere Wertschätzung nicht zeigen. Er hat nur noch dich.
Damit endete Jucefs Brief: Er hat nur noch dich. Sahat legte das Schreiben in das Kästchen, in dem er die Briefe aufbewahrte, die er fünf Jahre lang mit Hasdai gewechselt hatte. Er hat nur noch dich. Das Kästchen in den Händen, stand er im Bug und blickte erneut zum Horizont. »Legt euch in die Riemen, Marseiller! Er hat nur noch mich.«
Auf einen Wink von Aledis zogen sich Eulàlia und Teresa zurück. Joan war bereits vor einer Weile schlafen gegangen. Mar hatte seinen Abschiedsgruß nicht erwidert.
»Warum behandelst du ihn so?«, fragte Aledis, als sie alleine im Schankraum zurückblieben. Nur das Knacken der heruntergebrannten Holzscheite war zu hören. Mar schwieg. »Immerhin ist er sein Bruder …«