»Dieser Mönch hat es nicht anders verdient.«
Mar starrte unverwandt auf die Tischplatte, während sie einen vorstehenden Astknoten auszubrechen versuchte. Sie ist schön, dachte Aledis. Das seidige Haar fiel ihr in weichen Wellen über die Schultern und ihre Gesichtszüge waren fein modelliert: sanft geschwungene Lippen, hohe Wangenknochen, festes Kinn, gerade Nase. Aledis war erstaunt, als sie ihre makellos weißen Zähne sah, und auf dem gesamten Weg vom Bischofspalast zum Gasthof hatte sie ihren straffen, wohlgeformten Körper bewundert. Ihre rauen, schwieligen Hände allerdings waren die eines Menschen, der harte Feldarbeit verrichtet hatte.
Mar ließ von dem Astloch ab und sah Aledis an, die ihren Blick stumm erwiderte.
»Es ist eine lange Geschichte«, erklärte sie.
»Ich habe Zeit«, sagte Aledis.
Mar verzog das Gesicht und ließ einige Sekunden verstreichen. Sie hatte seit Jahren nicht mehr mit einer Frau gesprochen. Seit Jahren lebte sie nur für sich und schuftete auf den kargen Feldern, stets in der Hoffnung, das Korn und die Sonne hätten ein Einsehen mit ihrem Elend und würden sich gnädig zeigen. Warum nicht? Aledis schien eine anständige Frau zu sein.
»Meine Eltern starben während der Großen Pest. Ich war damals noch ein kleines Mädchen …«
Sie ließ kein Detail aus. Aledis durchfuhr ein Schauder, als Mar von der Liebe erzählte, die sie auf dem freien Feld vor der Burg Montbui durchströmt hatte. »Ich verstehe dich«, hätte sie beinahe gesagt, »mir ging es genauso …« Arnau, Arnau, Arnau – jedes fünfte Wort war Arnau. Aledis erinnerte sich, wie der Seewind seinen jugendlichen Körper liebkost hatte, der ihr Verlangen weckte. Mar erzählte ihr die Geschichte ihrer Entführung und ihrer Ehe. Bei der Schilderung brach sie in Tränen aus.
»Danke«, sagte Mar, als sie wieder sprechen konnte.
Aledis ergriff ihre Hand.
»Hast du Kinder?«, fragte sie, als sie sich wieder gefasst hatte.
»Ich hatte einen Sohn.« Aledis drückte ihre Hand. »Er starb vor vier Jahren kurz nach der Geburt an der Pest, die damals unter den Kindern wütete. Sein Vater lernte ihn nie kennen; er wusste nicht einmal, dass ich schwanger war. Er starb in Calatayud, wo er für einen König kämpfte, der, anstatt sein Heer anzuführen, mit dem Schiff von Valencia in den Roussillon floh, um seine Familie vor dem neuerlichen Pestausbruch in Sicherheit zu bringen.« Mar lächelte verächtlich.
»Und was hat das alles mit Joan zu tun?«, fragte Aledis.
»Er wusste, dass ich Arnau liebte … und er mich.«
Als Aledis die ganze Geschichte gehört hatte, schlug sie mit der Faust auf den Tisch. Es war mittlerweile Nacht geworden, und der Schlag hallte durch den Gasthof.
»Wirst du die Verräter anzeigen?«
»Arnau hat diesen Mönch immer geschützt. Er ist sein Bruder und er liebt ihn.« Aledis erinnerte sich an die beiden Jungen, die unten in Peres und Marionas Haus geschlafen hatten. Arnau hatte Steine geschleppt, während Joan studierte. »Ich möchte Arnau nicht wehtun, aber jetzt … Jetzt kann ich nicht zu ihm und weiß nicht einmal, ob er weiß, dass ich hier bin und dass ich ihn immer noch liebe. Man wird ihm den Prozess machen. Vielleicht … vielleicht verurteilen sie ihn zum Tode.«
Und Mar brach erneut in Tränen aus.
»Glaub mir, ich werde das Versprechen nicht brechen, das ich dir gegeben habe, aber ich muss mit ihm reden«, sagte sie, kurz bevor sie ging. Francesca spähte in die Dunkelheit, um in ihrem Gesicht zu lesen. »Vertrau mir«, sagte Aledis.
Arnau war aufgestanden, als Aledis den Kerker betrat, hatte sie jedoch nicht angesprochen. Still sah er zu, wie die beiden Frauen miteinander flüsterten. Wo war Joan? Seit zwei Tagen hatte er ihn nicht mehr besucht, dabei musste er ihn so vieles fragen. Er sollte herausfinden, wer diese alte Frau war. Weshalb war sie hier? Warum hatte der Kerkermeister gesagt, sie sei seine Mutter? Was war mit seinem Prozess? Und mit seinen Geschäften? Und Mar? Was war mit Mar? Etwas lief schief. Seit Joans letztem Besuch behandelte ihn der Gefängniswärter wieder wie alle anderen. Das Essen bestand wieder aus Brot und Wasser, und der Eimer war verschwunden.
Arnau sah, wie sich die Frau von der Alten verabschiedete. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, wollte er sich zu Boden sinken lassen, doch da merkte er, dass sie auf ihn zukam.
Arnau sah sie in der Dunkelheit näher kommen und richtete sich auf. Die Frau blieb einige Schritte vor ihm stehen, weit weg von den wenigen schwachen Lichtstrahlen, die in das Verlies drangen.
Arnau kniff die Augen zusammen, um sie deutlicher sehen zu können.
»Du darfst keinen Besuch mehr empfangen«, hörte er die Frau sagen.
»Wer bist du?«, fragte er. »Woher weißt du das?«
»Wir haben keine Zeit, Arnau.« Sie hatte ihn Arnau genannt! »Wenn der Kerkermeister kommt …«
»Wer bist du?«
Warum es ihm nicht sagen? Warum ihn nicht umarmen und trösten? Sie würde es nicht ertragen. Francescas Worte klangen ihr in den Ohren. Aledis drehte sich zu ihr um, dann sah sie erneut zu Arnau.
»Wer bist du?«, fragte er noch einmal.
»Das tut nichts zur Sache. Ich wollte dir nur sagen, dass Mar in Barcelona ist und auf dich wartet. Sie liebt dich. Sie liebt dich noch immer.«
Aledis sah, wie sich Arnau gegen die Wand lehnte. Sie wartete einige Sekunden. Dann waren Geräusche auf dem Flur zu hören. Der Kerkermeister hatte ihr nur einige Minuten zugestanden. Erneute Geräusche. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Auch Arnau hörte es und sah zur Tür.
»Soll ich ihr etwas ausrichten?«
Die Tür öffnete sich, und das Licht der Fackeln, die den Gang erleuchteten, fiel auf Aledis.
»Sag ihr, dass ich sie auch …« Der Kerkermeister betrat das Verlies. »Ich liebe sie. Auch wenn ich nicht …«
Aledis wandte sich ab und ging zur Tür.
»Was hast du da mit dem Geldwechsler geredet?«, fragte der dicke Kerkermeister sie, nachdem er die Tür geschlossen hatte.
»Er hat nach mir gerufen, als ich gerade gehen wollte.«
»Es ist verboten, mit ihm zu sprechen.«
»Das wusste ich nicht. Ich wusste auch nicht, dass er der Geldwechsler ist. Ich habe ihm nicht geantwortet. Ich bin nicht einmal näher herangegangen.«
»Der Inquisitor hat verboten …«
Aledis zog die Geldbörse hervor und ließ ein paar Münzen klingeln.
»Aber ich will dich hier nicht mehr sehen«, sagte der Kerkermeister, während er das Geld an sich nahm. »Falls doch, wirst du dieses Verlies nicht mehr verlassen.«
Unterdessen versuchte Arnau in dem düsteren Gelass, die Worte der Frau zu begreifen: »Sie liebt dich. Sie liebt dich noch immer.« Doch die Erinnerung an Mar wurde getrübt durch das flüchtige Aufblitzen riesiger brauner Augen im Schein der Fackeln. Er kannte diese Augen. Wo hatte er sie schon einmal gesehen?
Sie hatte ihr versprochen, ihm die Nachricht zu übermitteln.
»Keine Sorge«, hatte sie versichert. »Arnau wird erfahren, dass du hier bist und auf ihn wartest.«
»Sag ihm auch, dass ich ihn liebe«, rief Mar ihr hinterher, als Aledis bereits auf der Plaza de la Llana war.
In der Tür des Gasthofs stehend, sah Mar, wie die Witwe sich zu ihr umwandte und lächelte. Als Aledis nicht mehr zu sehen war, verließ Mar den Gasthof. Sie hatte während des ganzen Weges von Mataró darüber nachgedacht. Sie hatte darüber nachgedacht, als man ihr verbot, Arnau zu sehen. Und sie hatte die ganze letzte Nacht darüber nachgedacht. Von der Plaza de la Llana ging sie ein paar Schritte durch die Calle de Bòria, an der Markuskapelle vorbei und dann nach rechts. Am Anfang der Calle Monteada blieb sie stehen und betrachtete einen Moment lang die vornehmen Stadtpaläste.
»Señora!«, rief Pere, Elionors betagter Diener, als er sie durch einen der großen Türflügel in Arnaus Palast einließ. »Welch eine Freude, Euch wiederzusehen. Wie lange ist es her, seit …« Pere verstummte und bat sie mit einer nervösen Geste über den gepflasterten Hof. »Was führt Euch her?«