Aber das Volk begann, an der Wirksamkeit der Kirche und ihrer Vertreter zu zweifeln. Da beteten sie bis zur Erschöpfung, und die Pest wütete noch immer.
»Sie sagen, dies sei das Ende der Welt«, erzählte Arnau eines Tages, als er nach Hause kam. »Ganz Barcelona ist verrückt geworden. Flagellanten nennen sie sich.«
Maria stand mit dem Rücken zu ihm. Arnau setzte sich und wartete, dass seine Frau ihm die Schuhe auszog. Unterdessen erzählte er weiter.
»Sie ziehen zu Hunderten mit nacktem Oberkörper durch die Straßen, verkünden, der Tag des Jüngsten Gerichts sei nahe, schreien ihre Sünden in die Welt hinaus und geißeln sich mit Peitschen. Einige haben nur noch rohes Fleisch am Rücken und machen trotzdem weiter …«
Arnau streichelte Maria, die nun vor ihm kniete, über den Kopf. Was war das? Er hob ihr Kinn an. Es konnte nicht sein. Nicht sie. Maria sah mit glasigen Augen zu ihm auf. Sie schwitzte, ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Arnau versuchte, ihren Kopf noch weiter anzuheben, um den Hals zu sehen, doch sie zuckte vor Schmerz zusammen.
»Nicht du!«, schrie Arnau.
Maria kniete vor ihm, die Hände auf den Strohsandalen ihres Mannes, und sah Arnau an, während die Tränen über ihre Wangen zu rollen begannen.
»Mein Gott, nicht du. Mein Gott!« Arnau kniete sich neben sie.
»Geh, Arnau«, stammelte Maria. »Bleib nicht bei mir.«
Arnau wollte sie umarmen, doch als er sie an den Schultern fasste, verzog sie erneut das Gesicht vor Schmerzen.
»Komm«, sagte er, während er sie so sanft wie möglich hochzog. Erneut bat ihn Maria schluchzend zu gehen. »Wie könnte ich dich alleine lassen? Du bist alles, was ich habe … alles! Was soll ich ohne dich machen? Einige werden gesund, Maria. Du wirst wieder gesund! Du wirst wieder gesund!«
Während er versuchte, ihr Trost zuzusprechen, brachte er sie zur Schlafkammer und legte sie aufs Bett. Jetzt konnte er ihren Hals sehen, der immer so schön gewesen war und sich nun schwarz zu verfärben begann.
»Einen Arzt!«, schrie er aus dem Fenster.
Niemand schien ihn zu hören. Doch noch in derselben Nacht, als sich die Beulen an Marias Hals zu bilden begannen, malte jemand ein Kreidekreuz an ihre Tür.
Arnau konnte nichts weiter tun, als Marias Stirn mit feuchten Tüchern zu kühlen. Die Frau lag auf dem Bett und zitterte. Jede Bewegung verursachte ihr furchtbare Schmerzen und ihr leises Stöhnen richtete Arnaus Nackenhaare auf. Maria starrte mit leerem Blick an die Decke. Arnau sah, wie die Beulen am Hals wuchsen und ihre Haut sich schwarz färbte. »Ich liebe dich, Maria. So oft schon hätte ich dir das gerne gesagt.« Er nahm ihre Hand und kniete neben dem Bett nieder. So verbrachte er die Nacht, die Hand seiner Frau umklammernd, während er mit ihr zitterte und schwitzte und bei jedem Krampf, der Maria schüttelte, zum Himmel flehte.
Er hüllte sie in das beste Leintuch, das sie besaßen, und wartete, dass der Leichenkarren vorbeikam. Er wollte sie nicht auf der Straße ablegen, sondern sie den Totengräbern selbst übergeben. Als er das müde Trappeln der Pferdehufe hörte, nahm er Marias Leichnam und trug ihn nach unten auf die Straße.
»Leb wohl«, sagte er und küsste sie auf die Stirn.
Die beiden Totengräber, die Handschuhe trugen und ihre Gesichter mit dicken Tüchern verhüllt hatten, sahen überrascht zu, wie Arnau das Leintuch von Marias Gesicht zurückschlug und sie küsste. Niemand wollte den Pesttoten nahekommen, nicht einmal ihre liebsten Angehörigen. Sie ließen sie einfach auf der Straße liegen oder riefen bestenfalls die Totengräber, damit diese sie abholten. Arnau übergab seine Frau den Männern, die beeindruckt versuchten, sie vorsichtig zu den Dutzenden von Leichen zu legen, die sie transportierten.
Mit Tränen in den Augen sah Arnau dem Karren hinterher, bis er in den Straßen Barcelonas verschwand. Er würde der Nächste sein. Er ging ins Haus und setzte sich hin, um auf den Tod zu warten, voller Sehnsucht, wieder mit Maria vereint zu sein. Drei ganze Tage wartete Arnau darauf, dass die Pest bei ihm ausbrach, während er ständig seinen Hals betastete, um nach einer Schwellung zu suchen. Die Beulen kamen nicht, und Arnau begann zu begreifen, dass der Herr ihn fürs Erste verschont hatte.
Arnau ging am Strand entlang und watete durch die Wellen, die sich am Ufer der verfluchten Stadt brachen. Er streifte durch Barcelona, ohne Augen für das Elend und die Kranken zu haben oder das Stöhnen wahrzunehmen, das aus den Fenstern der Häuser drang. Etwas trieb ihn nach Santa María. Die Bauarbeiten waren eingestellt worden, die Gerüste waren verwaist, Steine lagen herum und warteten darauf, dass sie jemand bearbeitete. Doch die Menschen strömten nach wie vor in die Kirche. Er ging hinein. Die Gläubigen standen oder knieten rund um den unvollendeten Hauptaltar und beteten. Obwohl der Bau durch die noch nicht fertiggestellten Apsiden nach wie vor nach oben offen war, war die Luft geschwängert von Weihrauch, der verbrannt wurde, um den Geruch des Todes zu überdecken, der die Menschen begleitete. Als er gerade zu seiner Jungfrau gehen wollte, richtete ein Priester vom Hauptaltar aus das Wort an die Gläubigen.
»Unser Papst Clemens VI. hat eine Bulle erlassen, welche die Juden davon freispricht, die Pest verursacht zu haben. Die Krankheit ist lediglich eine Pestilenz, mit der Gott das christliche Volk prüft.« Ein missbilligendes Murren ging durch die Versammelten. »Betet«, fuhr der Priester fort, »und empfehlt eure Seelen dem Herrn.«
Viele verließen lautstark diskutierend die Kirche.
Arnau achtete nicht länger auf die Predigt und ging zur Sakramentskapelle. Die Juden? Was hatten die Juden mit der Pest zu tun? Die kleine Marienstatue erwartete ihn am selben Platz wie immer. Die Kerzen der Bastaixos spendeten ihr Licht. Wer mochte sie entzündet haben? Trotzdem konnte Arnau seine Mutter kaum erkennen. Sie war von einer dichten Weihrauchwolke eingehüllt. Er sah ihr Lächeln nicht. Arnau wollte beten, aber es gelang ihm nicht. »Weshalb hast du das zugelassen, Mutter?« Bei dem Gedanken an Maria, ihr Leiden, ihren dem Schmerz ausgelieferten Körper, die Beulen, von denen sie gequält wurde, rollten ihm erneut die Tränen über die Wangen. Es war eine Strafe, doch eigentlich war er es, der diese Strafe verdient hatte. Er hatte gesündigt, indem er mit Aledis untreu gewesen war.
»Fehlt dir etwas, mein Sohn?«, hörte er jemanden hinter sich fragen. Arnau drehte sich um und stand vor dem Priester, der gerade eben noch zu den Gläubigen gesprochen hatte.
»Ach, Arnau«, sagte dieser, nachdem er in ihm einen der Bastaixos erkannt hatte, die so eifrig am Bau von Santa María mitwirkten. »Fehlt dir etwas?«, erkundigte er sich noch einmal.