»Maria.«
Der Priester nickte.
»Wir wollen für sie beten«, forderte er ihn auf.
»Nein, Pater«, widersetzte sich Arnau. »Noch nicht.«
»Nur in Gott wirst du Trost finden, Arnau.«
Trost? Wie sollte er irgendwo Trost finden? Arnau versuchte, seine Jungfrau zu erkennen, doch der Weihrauch hinderte ihn auch diesmal daran.
»Wir wollen beten …«, beharrte der Pfarrer.
»Was hat das mit den Juden zu bedeuten?«, unterbrach ihn Arnau auf der Suche nach einer Ausflucht.
»Ganz Europa glaubt, die Juden seien schuld an der Pest.« Arnau sah den Priester fragend an. »Angeblich haben im Schloss Chillon bei Genf einige Juden gestanden. Die Seuche sei von einem Juden aus Savoyen verbreitet worden, der mit einer von den Rabbinern zubereiteten Substanz die Brunnen vergiftete.«
»Und stimmt das?«, fragte Arnau.
»Nein. Der Papst hat sie von jeder Schuld freigesprochen, doch die Leute suchen nach Sündenböcken. Wollen wir nun beten?«
»Betet Ihr für mich, Pater.«
Arnau verließ Santa María. Auf dem Vorplatz war er plötzlich von einer Gruppe von etwa zwanzig Flagellanten umringt. »Übe Reue!«, riefen sie, während sie unablässig ihre Rücken geißelten. »Das Ende der Welt ist gekommen!«, schrien andere, ihm die Worte ins Gesicht speiend. Arnau sah, wie ihnen das Blut über die wunden Rücken rann und an ihren nackten Beinen herabsickerte. Um die Hüften trugen sie Bußgürtel. Er betrachtete ihre Gesichter und die weit aufgerissenen Augen, die ihn anstarrten. Er lief in Richtung Calle de Monteada davon, bis die Schreie verhallten. Hier war es still, aber … die Türen! Nur an wenigen der großen Portale zu den Stadtpalästen in der Calle Monteada war das weiße Kreuz zu sehen, das wie ein Kainsmal die meisten Türen der Stadt zeichnete. Arnau stand vor dem Palast der Puigs. Auch dort befand sich kein weißes Kreuz. Die Fenster waren verschlossen und in dem Gebäude regte sich nichts. Er wünschte, die Pest möge sie dort einholen, wohin sie sich geflüchtet hatten, damit sie genauso litten, wie Maria gelitten hatte. Arnau suchte noch schneller das Weite als vor den Flagellanten.
Als er die Stelle erreichte, wo die Calle Monteada auf die Calle Carders stieß, begegnete Arnau erneut einer aufgeregten Menschenmenge, doch diese war mit Stöcken, Schwertern und Armbrüsten bewaffnet. »Die Leute sind alle verrückt geworden«, dachte Arnau, während er sich von der Menge entfernte. Die Predigten in allen Kirchen der Stadt hatten wenig genützt. Die Bulle Clemens' VI. hatte die Gemüter im Volk nicht besänftigt, das seinen Zorn an jemandem auslassen wollte. »Zum Judenviertel!«, hörte er sie brüllen. »Ketzer! Mörder! Büßen sollt ihr!« Auch die Flagellanten waren dort und wiegelten die Umstehenden auf, während sie sich geißelten, bis das Blut spritzte.
Arnau folgte der Horde gemeinsam mit einer schweigenden Menge, in der er den einen oder anderen Pestkranken sah. Ganz Barcelona strömte zum Judenviertel und umstellte das von Mauern umgebene Barrio. Einige rotteten sich neben dem Bischofspalast zusammen, andere im Westen neben der alten römischen Stadtmauer. Wieder andere versammelten sich in der Calle del Bisbe, die im Osten an das Judenviertel grenzte, die restlichen, darunter auch die Gruppe, der Arnau folgte, trafen sich im Süden in der Calle de la Boquería und vor dem Castell Nou, wo sich der Eingang zum Judenviertel befand. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Das Volk schrie nach Rache, doch für den Augenblick beschränkte es sich darauf, vor den Toren zu brüllen und mit seinen Stöcken und Armbrüsten zu fuchteln.
Arnau gelang es, einen Platz auf der überfüllten Kirchentreppe von Sant Jaume zu ergattern, aus der man ihn und Joanet eines lange zurückliegenden Tages hinausgeworfen hatte, als er auf der Suche nach dieser Jungfrau gewesen war, die er Mutter nennen konnte. Die Kirche Sant Jaume lag genau gegenüber der südlichen Mauer des Judenviertels, und von dort konnte Arnau über die Köpfe der Leute hinweg sehen, was geschah. Ein Kommando königlicher Soldaten unter dem Befehl des Stadtrichters stand bereit, um das Judenviertel zu schützen. Bevor die Menge angriff, näherte sich eine Abordnung von Bürgern der Mauer, um vor dem halb geöffneten Tor des Judenviertels mit dem Stadtrichter darüber zu verhandeln, dass er die Truppen abziehen solle. Die Flagellanten schrien und sprangen um die Gruppe herum, und der Mob stieß weiterhin Drohungen gegen die Juden aus, von denen nichts zu sehen war.
»Sie werden nicht abziehen«, hörte Arnau eine Frau sagen.
»Die Juden sind Eigentum des Königs, sie hängen einzig und allein vom König ab«, pflichtete ein anderer bei. »Wenn die Juden sterben, verliert der König alle Steuern, die er von ihnen einholt …«
»Und alle Darlehen, die er bei diesen Wucherern aufnimmt.«
»Und nicht nur das«, mischte sich ein Dritter ein. »Wenn das Judenviertel geschleift wird, verliert der König auch die Möbel, die die Juden ihm und seinem Hofstaat überlassen, wenn er nach Barcelona kommt.«
»Da werden die Adligen halt auf dem Boden schlafen müssen«, war irgendwo unter lautem Gelächter zu vernehmen.
Arnau konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Der Stadtrichter wird die Interessen des Königs verteidigen«, sagte die Frau.
Und so war es. Der Stadtrichter gab nicht nach. Als die Unterredung beendet war, zog er sich rasch ins Judenviertel zurück. Das war das Zeichen, auf das die Leute gewartet hatten. Noch bevor das Tor verschlossen war, stürzten die ersten zur Mauer, während sich ein Hagel aus Stöcken, Pfeilen und Steinen über die Mauern des Judenviertels ergoss. Der Überfall hatte begonnen.
Arnau sah, wie eine Meute blindwütiger Bürger in wilder Unordnung gegen die Tore und Mauern des Judenviertels anrannte. Was einem Befehl am nächsten kam, waren die Schreie der Flagellanten, die sich vor den Mauern geißelten und die Menschen anstachelten, diese zu stürmen und die Ketzer zu töten. Viele fielen unter den Schwerthieben der königlichen Soldaten, als sie die Mauern erklommen hatten, doch das Judenviertel wurde von allen vier Seiten heftig bestürmt, und anderen gelang es, die Soldaten zu überrennen und den Juden gegenüberzutreten.
Arnau blieb zwei Stunden auf der Kirchentreppe von Sant Jaume stehen. Die Schlachtrufe der Kämpfenden erinnerten ihn an seine Zeit als Soldat, an Bellaguarda und Chateau-Roussillon. Die Gesichter der Gefallenen verschwammen mit den Gesichtszügen der Männer, denen er damals den Tod gebracht hatte. Der Geruch des Blutes versetzte ihn zurück nach Roussillon, erinnerte ihn an die Lüge, die ihn in diesen absurden Krieg geführt hatte, an Aledis und Maria … Er verließ den Aussichtsposten, von dem aus er das Gemetzel verfolgt hatte.
Er ging in Richtung Meer, während er an Maria dachte und an die Umstände, die ihn dazu gebracht hatten, sein Heil im Krieg zu suchen. Doch auf der Höhe des Castell de Regomir, der Bastion in der alten römischen Stadtmauer, wurde er jäh aus seinen Gedanken gerissen, als er ganz in der Nähe Schreie hörte.
»Ketzer!«
»Mörder!«
Arnau sah etwa zwanzig mit Stöcken und Messern bewaffnete Männer, die auf der Straße standen und einige Personen beschimpften, die, in die Enge getrieben, an einer der Hauswände standen. Weshalb gaben sie sich nicht damit zufrieden, ihre Toten zu beweinen? Er blieb nicht stehen und zwängte sich durch die aufgebrachte Menge, um seinen Weg fortzusetzen. Während er sich mit den Ellbogen einen Weg bahnte, sah er kurz zu der Stelle, um die sich die Leute drängten. Vor einem der Hauseingänge versuchte ein blutender Maurensklave, mit seinem Körper drei schwarz gekleidete Kinder mit dem gelben Zeichen auf der Brust zu schützen. Plötzlich stand Arnau zwischen dem Mauren und den Angreifern. Das Geschrei verstummte und die Kinder lugten mit angsterfüllten Gesichtern hinter dem Sklaven hervor. Arnau betrachtete sie. Er bedauerte es, Maria keine Kinder geschenkt zu haben. Ein Stein streifte Arnau und flog auf eines der Köpfchen zu. Der Maure warf sich dazwischen. Als der Stein ihn in den Magen traf, krümmte er sich vor Schmerz. Das ängstliche Kindergesicht sah Arnau direkt an. Seine Frau hatte Kinder geliebt. Ihr war es gleichgültig gewesen, ob sie Christen, Mauren oder Juden waren. Sie hatte ihnen sehnsüchtig nachgeblickt, am Strand, in den Straßen … Und dann hatte sie ihn angesehen.