»Weg da! Verschwinde«, hörte Arnau eine Stimme hinter sich sagen.
Arnau blickte in die schreckensweiten Kinderaugen.
»Was habt ihr mit den Kindern vor?«, fragte er.
Mehrere mit Messern bewaffnete Männer bauten sich vor ihm auf.
»Sie sind Juden«, antworteten sie kurz angebunden.
»Und nur deshalb wollt ihr sie umbringen? Habt ihr nicht schon genug mit ihren Eltern?«
»Sie haben die Brunnen vergiftet«, entgegnete einer. »Sie haben Jesus umgebracht. Sie töten christliche Kinder für ihre heidnischen Riten. Ja, wirklich, sie reißen ihnen das Herz heraus … Sie stehlen geweihte Hostien.« Arnau hörte nicht hin. Der Blutgeruch aus dem Judenviertel hing ihm immer noch in der Nase. Es war der Blutgeruch aus Chateau-Roussillon. Er packte den Nächstbesten am Arm und schlug ihm ins Gesicht. Dann zog er sein Messer und drohte den Übrigen damit.
»Niemand wird einem Kind etwas zuleide tun!«
Die Angreifer sahen, mit welcher Entschlossenheit Arnau das Messer umklammerte, wie er es vor ihnen kreisen ließ, wie er sie ansah.
»Niemand wird einem Kind etwas zuleide tun«, wiederholte er. »Geht zum Judenviertel und kämpft gegen die Soldaten, gegen erwachsene Männer.«
»Sie werden Euch umbringen«, hörte er den Mauren, der nun hinter ihm stand, sagen.
»Ketzer!«, schrien sie ihm aus der Menge entgegen.
»Jude!«
Man hatte ihm beigebracht, zuerst anzugreifen, den Feind zu überrumpeln, den Gegner nicht aufkommen zu lassen, ihm Angst einzujagen. Mit dem Ruf »Sant Jordi!« ging Arnau mit dem Messer auf die Umstehenden los. Er stieß dem Ersten die Klinge in den Leib, dann fuhr er herum, sodass diejenigen, die sich auf ihn stürzen wollten, zurückwichen. Der Dolch zerschlitzte mehr als einem die Brust. Am Boden liegend, stieß ihm einer der Angreifer ein Messer in die Wade. Arnau sah ihn an, packte ihn am Schopf, zog seinen Kopf nach hinten und schnitt ihm die Kehle durch. Blut sprudelte aus der Wunde. Drei Männer lagen am Boden, die Übrigen begannen zurückzuweichen. »Flieh, wenn die Lage schlecht für dich steht«, hatte man ihm geraten. Arnau tat so, als wollte er sich erneut auf seine Widersacher stürzen. Die Leute liefen durcheinander, während sie versuchten, sich von ihm zu entfernen. Ohne sich umzudrehen, winkte er den Mauren zu sich heran. Als er die schlotternden Kinder an seinen Beinen spürte, begann er rückwärts in Richtung Meer zu gehen, ohne die Angreifer aus den Augen zu lassen.
»Im Judenviertel wartet man auf euch«, rief er der Menge zu, während er die Kinder vor sich herschob.
Als sie das alte Stadttor am Castell de Regomir erreichten, begannen sie zu laufen. Ohne nähere Erklärungen hinderte Arnau die Kinder daran, zum Judenviertel zurückzukehren.
Wo konnte er die Kinder verstecken? Arnau führte sie zur Kirche Santa María. Vor dem Hauptportal blieb er unvermittelt stehen. Von dort, wo sie standen, konnte man durch die noch nicht fertiggestellten Mauern ins Innere des Baus sehen.
»Ihr … Ihr wollt die Kinder doch nicht etwa in einer christlichen Kirche verstecken?«, fragte ihn der Sklave keuchend.
»Nein«, antwortete Arnau. »Aber ganz in der Nähe.«
»Weshalb habt Ihr uns nicht in unsere Häuser zurückkehren lassen?«, fragte nun das Mädchen, offensichtlich die Älteste der drei, der das Laufen nicht so zugesetzt hatte wie den Übrigen.
Arnau betastete sein Wade. Die Wunde blutete stark.
»Weil eure Häuser von diesen Leuten überfallen werden«, antwortete er. »Sie geben euch die Schuld an der Pest. Sie behaupten, ihr hättet die Brunnen vergiftet.«
Niemand sagte ein Wort.
»Es tut mir leid«, erklärte Arnau.
Der muslimische Sklave fasste sich als Erster.
»Hier können wir nicht bleiben«, sagte er, während er darauf bestand, Arnaus Bein zu untersuchen. »Tut, was Ihr für richtig haltet, aber versteckt die Kinder.«
»Und du?«, wollte Arnau wissen.
»Ich muss herausfinden, was mit ihren Familien passiert ist. Wie kann ich die Kinder wiederfinden?«
»Das kannst du nicht«, entgegnete Arnau, während er dachte, dass er ihm im Augenblick nicht den Zugang zu dem römischen Friedhof zeigen konnte. »Ich werde dich finden. Komm um Mitternacht an den Strand beim neuen Fischmarkt.«
Der Sklave nickte. Als sie bereits auseinandergehen wollten, fügte Arnau hinzu: »Wenn du drei Nächte hintereinander nicht erscheinst, gehe ich davon aus, dass du tot bist.«
Der Maure nickte erneut und sah Arnau aus seinen großen, schwarzen Augen an.
»Danke«, sagte er, bevor er in Richtung Judenviertel davonrannte.
Das kleinste Kind versuchte, dem Mauren hinterherzulaufen, doch Arnau hielt es an den Schultern fest.
In dieser ersten Nacht kam der Maure nicht zum verabredeten Ort. Arnau wartete über eine Stunde auf ihn. Er hörte den fernen Lärm der Unruhen im Judenviertel und sah in den von Bränden rot erleuchteten Nachthimmel. Während er wartete, hatte er Zeit, über die Ereignisse dieses verrückten Tages nachzudenken. Er hatte drei jüdische Kinder in der römischen Begräbnisstätte unter dem Hauptaltar von Santa María, der Kirche seiner Schutzpatronin, versteckt. Der Eingang zu dem Friedhof, den er und Joanet damals entdeckt hatten, war noch genauso wie beim letzten Mal, als sie dort gewesen waren. Die Eingangstreppe in der Calle del Born war immer noch nicht fertiggestellt und das Holzgerüst erleichterte ihnen den Zugang. Doch wegen der Wächter, die fast eine Stunde lang auf der Straße ihre Runde machten, hatten sie still zusammengekauert auf eine Gelegenheit warten müssen, bis sie unter das Gerüst kriechen konnten.
Die Kinder folgten ihm widerspruchslos durch den dunklen Tunnel, bis Arnau ihnen sagte, wo sie sich befanden, und ihnen riet, nichts anzufassen, wenn sie keine unangenehme Überraschung erleben wollten. Daraufhin brachen die drei in bittere Tränen aus. Arnau wusste nicht, wie er auf ihr Schluchzen reagieren sollte. Maria hätte bestimmt gewusst, wie man sie beruhigte.
»Es sind nur Tote«, herrschte er sie an, »und nicht einmal Pesttote. Was ist euch lieber: Hier unten bei den Toten zu sein und zu leben, oder dort draußen, wo man euch umbringt?« Das Weinen verstummte. »Ich werde jetzt gehen, um eine Kerze, Wasser und etwas zu essen zu besorgen. Einverstanden? Einverstanden?«, wiederholte er noch einmal, als sie schwiegen.
»Einverstanden«, hörte er das Mädchen antworten.
»Damit eines klar ist: Ich habe mein Leben für euch aufs Spiel gesetzt und setze es auch jetzt aufs Spiel, falls jemand entdeckt, dass ich drei jüdische Kinder unter der Kirche Santa María versteckt habe. Ich bin nicht bereit, weiterhin mein Leben zu riskieren, wenn ihr bei meiner Rückkehr verschwunden seid. Also, was sagt ihr? Wartet ihr hier auf mich oder wollt ihr wieder hinaus auf die Straße?«
»Wir werden warten«, antwortete das Mädchen entschlossen.
Auf Arnau wartete ein leeres Haus. Er wusch sich und versuchte, sein Bein zu versorgen. Nachdem er die Wunde verbunden hatte, füllte er seinen alten Wasserschlauch, nahm eine Lampe und Öl, um sie zu füllen, einen Laib hartes Brot sowie Dörrfleisch und humpelte nach Santa María zurück.
Die Kinder hatten sich nicht vom Ende des Tunnels wegbewegt, wo er sie zurückgelassen hatte. Arnau entzündete die Lampe und sah drei verschreckte Rehlein, die sein Lächeln nicht erwiderten, mit dem er sie zu beruhigen versuchte. Das Mädchen umarmte die beiden anderen. Die drei hatten dunkle Haut und langes, gepflegtes Haar. Sie sahen gesund aus, mit schneeweißen Zähnen, und sie waren hübsch, insbesondere das Mädchen.
»Seid ihr Geschwister?«, wollte Arnau wissen.
»Wir beide sind Geschwister«, antwortete erneut das Mädchen und deutete auf den Kleinsten. »Er ist ein Nachbarsjunge.«
»Nun, ich finde, nach allem, was geschehen ist und was noch vor uns liegt, sollten wir uns vorstellen. Mein Name ist Arnau.«