Das Mädchen übernahm das Reden: Sie heiße Raquel, ihr Bruder Jucef und ihr Nachbar Saúl. Im Schein der Lampe stellte Arnau ihnen weitere Fragen, während die Kinder sich scheu in der Begräbnisstätte umblickten. Sie waren dreizehn, elf und sechs Jahre alt. Sie waren in Barcelona geboren und lebten mit ihren Eltern im Judenviertel, wohin sie eben zurückgehen wollten, als sie von der aufgebrachten Menge angegriffen wurden, vor der Arnau sie gerettet hatte. Der Sklave, den sie immer Sahat gerufen hatten, gehörte den Eltern von Raquel und Jucef, und wenn er gesagt hatte, dass er zum Strand kam, würde er das auch ganz gewiss tun. Er hatte sie noch nie belogen.
»Also gut«, sagte Arnau nach diesen Erklärungen, »ich denke, es lohnt sich, uns diesen Ort genauer anzusehen. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal hier war – ich muss ungefähr in eurem Alter gewesen sein. Obwohl ich nicht glaube, dass sich hier seither jemand von der Stelle gerührt hat.«
Nur er selbst lachte. Auf Knien rutschte er bis zur Mitte der Höhle und hielt die Lampe hoch. Die Kinder blieben, wo sie waren, und betrachteten verängstigt die offenen Gräber und die Skelette. »Ein besseres Versteck ist mir nicht eingefallen«, entschuldigte er sich, als er ihre entsetzten Gesichter sah. »Hier wird euch bestimmt niemand finden, bis sich die Lage wieder beruhigt hat …«
»Und was, wenn sie unsere Eltern umbringen?«, unterbrach ihn Raquel.
»Denk nicht einmal daran. Bestimmt geschieht ihnen nichts. Seht mal hier. Hier ist eine Stelle ohne Gräber, groß genug für uns alle. Los, kommt schon!«
Er musste sie noch mehrmals ermuntern, bis sie schließlich zu ihm kamen und sie sich zu viert in eine kleine Nische zwängten, wo sie auf dem Boden sitzen konnten, ohne ein Grab zu berühren. Die alte römische Begräbnisstätte war noch im selben Zustand wie beim letzten Mal, als Arnau sie gesehen hatte, mit ihren merkwürdigen Ziegelgräbern in Form länglicher Pyramiden und den großen Amphoren mit den Toten darin. Arnau stellte die Lampe auf einer von ihnen ab und bot den Kindern Wasser, Brot und Dörrfleisch an. Die drei tranken gierig, doch vom Essen nahmen sie nur das Brot.
»Es ist nicht koscher«, entschuldigte sich Raquel mit Blick auf das Dörrfleisch.
»Koscher?«
Raquel erklärte ihm, was koscher bedeutete und welche Regeln die Mitglieder der jüdischen Gemeinde befolgen mussten, wenn sie Fleisch essen wollten. So plauderten sie, bis die beiden Jungen erschöpft ihre Köpfe in den Schoß des Mädchens legten. Flüsternd, um sie nicht zu wecken, fragte das Mädchen: »Und du glaubst nicht, was man sagt?«
»Was?«
»Dass wir die Brunnen vergiftet haben.«
Arnau zögerte kurz, bevor er antwortete.
»Sind Juden an der Pest gestorben?«, fragte er.
»Viele.«
»Nein, dann glaube ich es nicht«, erklärte er.
Als Raquel eingeschlafen war, kroch Arnau durch den Tunnel und ging zum Strand.
Die Übergriffe auf das Judenviertel dauerten zwei Tage, in denen die wenigen königlichen Soldaten gemeinsam mit den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde versuchten, das Viertel gegen die ständigen Angriffe des blindwütig tobenden Pöbels zu verteidigen, der im Namen der Christenheit die Fahne der Plünderung und der Selbstjustiz hisste. Schließlich entsandte der König ausreichend Truppen, und die Situation begann sich zu entspannen.
In der dritten Nacht konnte sich Sahat, der aufseiten seiner Besitzer gekämpft hatte, davonstehlen, um Arnau wie verabredet am Strand beim Fischmarkt zu treffen.
»Sahat!«, hörte er ein Wispern in der Dunkelheit.
»Was machst du denn hier?«, fragte der Sklave Raquel, die ihm entgegenstürzte.
»Der Christ ist sehr krank.«
»Ist es …«
»Nein«, kam ihm das Mädchen zuvor, »es ist nicht die Pest. Er hat keine Beulen. Es ist sein Bein. Die Wunde hat sich entzündet und er hat hohes Fieber. Er kann nicht gehen.«
»Und die anderen beiden?«, fragte der Sklave.
»Denen geht es gut. Und zu Hause …?«
»Sie warten auf euch.«
Raquel führte den Mauren zu dem Holzgerüst vor dem Kirchenportal von Santa María in der Calle del Born.
»Hier ist es?«, fragte der Sklave, als das Mädchen unter das Gerüst kroch.
»Sei still«, antwortete sie. »Folge mir einfach!«
Die beiden krochen durch den Tunnel bis zu der römischen Begräbnisstätte. Alle mussten mithelfen, um Arnau nach draußen zu schaffen. Sahat kroch rückwärts und zog ihn an den Armen, die Kinder schoben an den Füßen. Arnau hatte das Bewusstsein verloren. Zu fünft – Arnau auf den Schultern des Sklaven – machten sie sich auf den Weg zum Judenviertel. Die Kinder hatten sich mit Hilfe von Sahat, der ihnen Kleider besorgt hatte, als Christen verkleidet. Dennoch versuchten sie, sich im Schatten zu halten. Als sie das Tor zum Judenviertel erreichten, das von einem starken Kontingent königlicher Soldaten bewacht wurde, klärte Sahat den wachhabenden Hauptmann über die wahre Identität der Kinder auf und warum sie nicht das gelbe Zeichen trugen. Was Arnau angehe, so sei er ein Christ, der an starkem Fieber leide und die Hilfe eines Arztes benötige, wie der Hauptmann sich vergewissern könne. Was dieser auch tat, doch nahm er rasch wieder Abstand, aus Furcht, es könne sich um einen Pestkranken handeln. In Wirklichkeit war es die prallgefüllte Börse, die der Sklave in die Hand des Hauptmanns gleiten ließ, während er mit ihm sprach, die ihnen die Tore des Judenviertels öffnete.
32
»Niemand wird diesen Kindern etwas zuleide tun. Vater, wo bist du? Warum, Vater? Im Palast ist Getreide. Ich liebe dich, Maria …«
Wenn Arnau delirierte, schickte Sahat die Kinder aus dem Zimmer und ließ Hasdai rufen, Raquels und Jucefs Vater, damit dieser ihm half, den Kranken zu bändigen, falls Arnau wieder einmal gegen die Soldaten aus dem Roussillon kämpfte und die Wunde am Bein erneut aufbrach. Herr und Sklave wachten am Fußende des Bettes, während eine weitere Sklavin ihm kalte Umschläge auf die Stirn legte. So ging das bereits seit einer Woche, in der Arnau die beste Behandlung der jüdischen Ärzte erhielt und ständig von der Familie Crescas und ihren Sklaven umsorgt wurde, insbesondere von Sahat, der Tag und Nacht bei dem Kranken wachte.
»Die Wunde ist nicht besonders schlimm«, lautete die Diagnose der Ärzte, »aber die Infektion schwächt den ganzen Körper.«
»Wird er überleben?«, erkundigte sich Hasdai.
»Er ist ein kräftiger Mann«, antworteten die Ärzte, bevor sie das Haus verließen.
»Es gibt Getreide im Palast!«, schrie Arnau nach einigen Minuten erneut. Er war schweißnass vor Fieber.
»Wenn er nicht wäre«, sagte Sahat, »wären wir alle tot.«
»Ich weiß«, erwiderte Hasdai, der neben ihm stand.
»Warum hat er das getan? Er ist ein Christ.«
»Er ist ein guter Mensch.«
Nachts, wenn Arnau schlief und es still im Haus war, verbeugte sich Sahat in Richtung Mekka, um für den Christen zu beten. Tagsüber flößte er ihm geduldig Wasser und die Medizin der Ärzte ein. Raquel und Jucef schauten häufig vorbei, und wenn Arnau nicht delirierte, ließ Sahat sie herein.
»Er ist ein Soldat«, stellte Jucef einmal mit großen Augen fest.
»Zumindest war er einer«, antwortete Sahat.
»Er hat gesagt, er sei ein Bastaix«, korrigierte Raquel.
»In dem Versteck erzählte er uns, er sei Soldat. Vielleicht ist er Bastaix und Soldat.«
»Das hat er nur gesagt, damit du Ruhe gibst.«
»Ich würde wetten, dass er ein Bastaix ist«, sagte Hasdai. »Nach dem, was er so erzählt.«
»Er ist ein Soldat«, beharrte der Jüngste.
»Ich weiß es nicht, Jucef.« Der Sklave fuhr ihm über das schwarze Haar. »Warum warten wir nicht, bis er gesund ist und es uns selbst erzählt?«
»Wird er wieder gesund?«
»Ganz bestimmt. Hast du schon einmal einen Soldaten wegen einer Wunde am Bein sterben gesehen?«