»Wohin geht Arnau?«, fragte sie Guillem, als sie in die Wechselstube zurückkehrte und sich ihm gegenüber auf einen der Stühle setzte.
»Eine Schuld begleichen.«
»Es muss sehr wichtig sein.«
»Sehr, Mar.« Guillem verzog den Mund. »Aber das wird nur die erste Rate sein.«
Mar begann, mit dem marmornen Abakus zu spielen. Wie oft hatte sie aus ihrem Versteck in der Küche heimlich zugesehen, wie Arnau mit ihm arbeitete! Ernst und konzentriert war er, während seine Finger über die Kugeln glitten und dann das Ergebnis in die Bücher eintrugen. Mar lief es heiß und kalt den Rücken hinunter.
»Hast du etwas?«, fragte Guillem.
»Nein, nein.«
Weshalb erzählte sie es ihm nicht? Guillem würde sie verstehen, sagte sich das Mädchen. Mit Ausnahme von Donaha, die sich immer ein Lächeln verkniff, wenn Mar in die Küche kam, um Arnau heimlich zu beobachten, wusste niemand davon. Alle Mädchen, die sich im Haus des Händlers Escales trafen, sprachen nur über das eine. Einige waren sogar bereits versprochen und priesen unaufhörlich die Tugenden ihrer zukünftigen Ehegatten. Mar hörte ihnen zu und wich den Fragen aus, die sie ihr stellten. Wie sollte sie über Arnau sprechen? Und wenn er davon erfuhr? Arnau war dreiunddreißig Jahre alt und sie erst vierzehn. Eines der Mädchen war mit einem Mann verlobt worden, der noch älter war als Arnau! Sie hätte sich gerne jemandem anvertraut. Ihre Freundinnen mochten von Geld schwärmen, von Auftreten, Aussehen, Männlichkeit oder Großzügigkeit, doch Arnau übertraf alle anderen! Hatten die Bastaixos, die Mar gelegentlich am Strand traf, nicht erzählt, dass Arnau einer der furchtlosesten Soldaten im Heer König Pedros gewesen sei? Ganz unten in einer Truhe hatte Mar Arnaus alte Waffen gefunden, seine Armbrust und seinen Dolch. Wenn sie alleine war, nahm sie sie hervor und strich darüber, während sie sich vorstellte, wie Arnau, von Feinden umzingelt, tapfer damit kämpfte.
Guillem betrachtete das Mädchen. Mar hatte den Finger auf eine der Marmorkugeln des Abakus gelegt. Ganz still stand sie da, während ihr Blick sich in der Ferne verlor.
»Hast du bestimmt nichts?«, fragte er noch einmal.
Mar zuckte zusammen und errötete. Donaha behauptete immer, dass jeder ihre Gedanken lesen könne. Sie trage Arnaus Namen auf den Lippen, in den Augen, auf ihrem ganzen Gesicht. Und wenn Guillem ihre Gedanken erraten hatte?
»Nein«, beteuerte sie, »ganz bestimmt nicht.«
Guillem schob die Kugeln des Abakus hin und her. Mar lächelte ihn an … War es ein trauriges Lächeln? Was ging dem Mädchen durch den Kopf? Vielleicht hatte Bruder Joan recht. Sie war im heiratsfähigen Alter, eine junge Frau, die mit zwei Männern unter einem Dach lebte …
Mar nahm den Finger vom Abakus.
»Guillem?«
»Ja?«
»Ach, nichts«, sagte sie schließlich und stand auf.
Guillem sah ihr nach, als sie die Wechselstube verließ. Es gefiel ihm nicht, aber vielleicht hatte der Mönch recht.
Er trat zu ihnen. Er war zum Ufer gegangen, während die Schiffe, drei Galeeren und ein Walfänger, in den Hafen einliefen. Der Walfänger gehörte ihm. Isabel, schwarz gekleidet und mit einer Hand ihren Hut festhaltend, stand mit dem Rücken zu ihm neben ihren Stiefsöhnen Josep und Genis und beobachtete die Ankunft der Schiffe. »Sie bringen euch keinen Trost«, dachte Arnau.
Bastaixos, Hafenschiffer und Händler verstummten, als sie Arnau in seiner Prunkkleidung vorbeigehen sahen.
Sieh mich an, du Hexe! Arnau blieb einige Schritte vom Ufer entfernt stehen. Sieh mich an! Das letzte Mal … Die Baronin drehte sich langsam zu ihm um, dann auch ihre Söhne. Arnau atmete tief durch. Das letzte Mal, als du mich gesehen hast, baumelte mein Vater über meinem Kopf.
Bastaixos und Hafenschiffer tuschelten miteinander.
»Brauchst du etwas, Arnau?«, fragte ihn einer der Zunftmeister. Arnau schüttelte den Kopf, den Blick starr auf die Augen der Frau gerichtet. Die Leute zerstreuten sich, während er vor der Baronin und seinen Cousins stehen blieb.
Er atmete noch einmal tief durch. Seine Augen fixierten Isabel, nur für wenige Sekunden. Dann glitt sein Blick über seine Cousins hinweg zu den Schiffen, und er lächelte.
Die Frau presste die Lippen aufeinander, bevor sie sich, Arnaus Beispiel folgend, dem Meer zuwandte. Als sie erneut zu ihm hinschaute, sah sie ihn davongehen. Die Edelsteine auf seinem Umhang funkelten.
Joan bemühte sich weiterhin, Mar zu verheiraten, und schlug mehrere Kandidaten vor. Sie zu finden, fiel ihm nicht schwer. Bei der bloßen Erwähnung von Mars Mitgift kamen Adlige und Händler herbeigerannt, nur … Wie sollte man es dem Mädchen beibringen? Joan erbot sich, diese Aufgabe zu übernehmen, doch als Arnau Guillem davon erzählte, war der Maure strikt dagegen.
»Das musst du tun«, sagte er, »nicht ein Mönch, den sie kaum kennt.«
Seit Guillem das gesagt hatte, verfolgte Arnau Mar auf Schritt und Tritt mit Blicken. Kannte er sie wirklich? Sie lebten seit Jahren unter einem Dach, aber eigentlich hatte sich Guillem um sie gekümmert. Er hatte einfach nur ihre Gesellschaft genossen, ihr Lachen und ihre Scherze. Nie hatte er mit ihr über eine ernste Angelegenheit gesprochen. Und nun stand er jedes Mal, wenn er zu dem Mädchen gehen und sie bitten wollte, mit ihm einen Spaziergang am Strand oder nach Santa María zu machen, jedes Mal, wenn er ihr sagen wollte, dass sie etwas Ernstes zu besprechen hätten, vor einer unbekannten Frau. Dann zögerte er so lange, bis sie ihn ertappte und ihn anlächelte. Wo war das kleine Mädchen geblieben, das auf seinen Schultern geritten war?
»Ich will keinen von ihnen heiraten«, gab sie ihnen zur Antwort.
Arnau und Guillem sahen sich an. Arnau hatte sich schließlich an den Sklaven gewandt.
»Du musst mir helfen«, bat er ihn.
Mars Augen begannen zu strahlen, als die beiden ihr von Ehe erzählten. Sie saß ihnen gegenüber am Wechseltisch, als ginge es um ein Geschäft. Doch dann schüttelte sie bei jedem der fünf Kandidaten, die ihnen Bruder Joan vorgeschlagen hatte, den Kopf.
»Aber Mädchen«, wandte Guillem ein, »du musst dich für einen entscheiden. Jedes Mädchen wäre stolz bei den Namen, die wir dir genannt haben.«
Mar schüttelte erneut den Kopf.
»Sie gefallen mir nicht.«
»Nun, etwas muss geschehen«, sagte Guillem, an Arnau gewandt.
Arnau betrachtete das Mädchen. Es war kurz davor zu weinen. Mar verbarg ihr Gesicht, aber das Zittern ihrer Unterlippe und der hastige Atem verrieten sie. Weshalb reagierte ein Mädchen so, dem man soeben solche Heiratskandidaten vorgeschlagen hatte? Immer noch herrschte Schweigen. Schließlich sah Mar Arnau an. Es war ein kaum merklicher Augenaufschlag. Warum sie leiden lassen?
»Wir werden weitersuchen, bis wir einen finden, der ihr gefällt«, sagte er zu Guillem. »Bist du damit einverstanden, Mar?«
Das Mädchen nickte, stand auf und ging. Die beiden Männer blieben allein zurück.
Arnau seufzte.
»Und ich dachte, die Schwierigkeit bestünde darin, es ihr zu sagen!«
Guillem antwortete nicht. Er sah immer noch zu der Küchentür hinüber, durch die Mar verschwunden war. Was war hier los? Was verbarg das Mädchen? Als es das Wort Heirat hörte, hatte es gelächelt, ihn mit funkelnden Augen angesehen, und dann …
»Mal sehen, was Joan sagt, wenn er davon erfährt«, sagte Arnau.
Guillem sah Arnau an, aber er beherrschte sich rechtzeitig. Was tat es zur Sache, was der Mönch dachte?
»Du hast recht. Am besten, wir sehen uns weiter um.«
Arnau wandte sich zu Joan um.
»Bitte«, sagte er. »Das ist nicht der richtige Moment.«
Er war in die Kirche Santa María gegangen, um zur Ruhe zu kommen. Es gab schlechte Nachrichten, und hier bei seiner Jungfrau, wo stets das Hämmern der Handwerker zu hören war und alle, die an dem Bau mitwirkten, ein Lächeln für ihn hatten, fühlte er sich wohl. Doch Joan hatte ihn aufgespürt und sich an seine Fersen geheftet. Mar hier, Mar dort, Mar und noch einmal Mar. Außerdem ging es ihn gar nichts an!