»Hey, das war ja ein richtiger kleiner Ausbruch«, sagte Susan lachend, »jedenfalls für deine Verhältnisse.«
»Diego hat eben« - sie dachte scharf nach, konnte jedoch keinen Ersatzbegriff finden - »was Süßes.« Sie atmete ein.
»Aber ich kenne ihn kaum.«
»Genau.«
»Entdecke ich da einen bissigen Ton in deiner Stimme?«
»Nein, sicher nicht. Ich hoffe nur, dass du eines Tages fliegst. Dass du dich gehen lässt. Außerdem glaube ich nicht mehr an Fehler.« Susan setzte ihr Glas so heftig ab, dass die Eiswürfel zusammenstießen.
»Häh?«
»Fehler. Es gibt keine Fehler. Egal was man tut, egal, wie schrecklich es einem zu dem Zeitpunkt vorkommt, es ist kein Fehler, weil man diese Lektion lernen musste, drum - lass los.«
»Das glaube ich nicht.«
»Harry, ich hab gewusst, dass du das sagen würdest.«
»Ja, weil es so ist. Mord ist ein Fehler. Man kann nicht jemanden ermorden und dann sagen, man musste diese Lektion lernen. Die Lektion lautet, nehme ich an, dass das Leben eines Menschen wertvoll ist und niemand das Recht hat, es ihm zu nehmen, außer in Notwehr natürlich.«
»Wir sprechen nicht von Mord.«
»Ich führe deine Fehlertheorie nur zu ihrem extremen Schluss.« »Und beweist damit die Richtigkeit meines Standpunkts.«
Susan warf den Kopf zurück, und schallendes Gelächter erfüllte die duftende Luft. »Du musst loslassen.«
Harry saß einen Moment still und dachte über Susans Gedanken nach, dann lächelte sie zaghaft. Antworten war nicht nötig.
12
Brennende Fackeln säumten die lange, gewundene Auffahrt zu Dalmally, Mims Anwesen. Die Flammen, die sich orangerot vor dem Zwielicht abhoben, gaben einem das unheimliche Gefühl, in der Zeit zurückzugehen. Der Sonnenuntergang brachte kühle Abendluft. Die Temperatur fiel auf elf Grad und würde wohl fast bis zum Gefrierpunkt sinken.
BoomBoom kam in einem schimmernden himbeerroten Chiffon-Abendkleid, eine Silberfuchsstola um die Schultern drapiert. Thomas würde den Motor abgestellt haben und aus seinem Mercedes-Sportwagen gesprungen sein, um Boom-Boom die Tür aufzuhalten, aber Mim, die nichts dem Zufall überließ, hatte einen Parkdienst aus Charlottesville engagiert. Sie verlangte, dass kein Fahrer die teuren Autos für eine Spritztour missbrauchte. Die Parkdienstfirma hatte einen entsprechenden Vertrag unterzeichnet. Mim ließ es sich niemals nehmen, das Personal vor einem Fest antreten zu lassen und über das Gesetz aufzuklären, das Gesetz Virginias und Mims Gesetz. Das hatte sie von ihrer Tante Tally und ihrer Mutter gelernt.
Nicht alle Gäste schwammen in Reichtum. Tracy Raz chauffierte Miranda in ihrem Ford Falcon. Die Leute meinten lachend, Miranda würde sich in diesem Auto beerdigen lassen, das selbst schon über vierzig Jahre alt war. Sie trug ein rotes Kleid, vom Stil her beinahe mittelalterlich, das ihr fabelhaft stand. Sie scheute sich nicht, ein bisschen anzugeben, nachdem sie so viel abgenommen hatte. Als sie an der Empfangsreihe entlangging, murmelten Big Mim, Little Mim, Jim und Tante Tally einander zu, wie jugendlich Miranda aussah. Auch Tracy hatte ein paar Pfund verloren und wog jetzt mit siebenundsiebzig Kilo so viel wie einst, als er das Team der Crozet Highschool zum Staatsbesten geführt hatte.
Miranda und Susan hatten geholfen, Harry zurechtzumachen und anzuziehen, daher sah die junge Frau blendend aus, als sie an der Empfangsreihe vorbeischritt. Ein schlichtes königsblaues Etuikleid mit tiefem Ausschnitt, der durch die langen Ärmel erst recht gewagt wirkte, war ideal für sie. Diego neben ihr, im Abendanzug, konnte den Blick nicht von ihr lassen.
Fair Haristeen konnte es auch nicht. Nachdem er sich gelobt hatte, seine Ex-Frau vor der Sommersonnenwende zurückzuerobern, ging er lächelnd zu Diego und begann geflissentlich ein Gespräch mit ihm.
Während sie sich unterhielten, traf Lottie Pearson ein, den bedrückten Donald Clatterbuck im Schlepptau. Don, der sich in dem offensichtlich in letzter Minute geliehenen Abendanzug unwohl fühlte, lächelte schüchtern, wenn die Leute ihn erkannten, was aber einen Moment dauerte. Don hatte sich nicht mal für seine Highschool-Abschlussfeier so in Schale geworfen. Da Roger O'Bannon sein Kumpel gewesen war, hatte die Nachricht von seinem Tod ihn bestürzt. Er wäre lieber nicht zu Big Mim gegangen. Lottie Pearson hatte einen Anfall bekommen, als er kneifen wollte, weshalb er die energische Frau widerwillig begleitete.
Thomas flüsterte BoomBoom ins Ohr: »Die Amerikaner müssen lernen, Abendkleidung niemals zu leihen. Gute Sachen halten ein Leben lang.«
»Vorausgesetzt, man behält seine Figur, was bei dir der Fall ist«, hauchte sie ihm daraufhin ins Ohr, was ihm die Röte in die Wangen trieb.
»Ah, Diego.« Thomas winkte ihn heran. »Ich habe dich nicht hereinkommen sehen.« Er verbeugte sich tief vor Harry. »Die Schönheit der Landschaft Virginias wird nur von der Schönheit seiner Frauen übertroffen.«
Sogar BoomBoom blieb der Mund leicht offen stehen, sie blinzelte und sagte: »Mary Minor, wenn deine Mutter dich jetzt sehen könnte.«
Harry lachte. »Ich weiß nicht recht, ob sie es glauben würde.« Als sie Thomas' und Diegos fragende Mienen bemerkte, fügte sie rasch hinzu: »Mutter ist daran verzweifelt, eine adrette Lady aus mir zu machen. Mit einer Tochter wie BoomBoom wäre sie glücklicher gewesen.«
»Harry, sag das nicht. Deine Mutter hat dich geliebt.«
»Boom, sie hat mich geliebt, aber sie wäre lieber mit dir einkaufen gegangen.«
Sie lachten. Lottie Pearson, die Don mit sich zog, stolzierte vorbei. Außerstande, Diegos hübschem Gesicht zu widerstehen, hielt sie an und stellte Don beflissen vor. Bei den zwei Herren aus Uruguay fühlte Don sich augenblicklich wohl. Sie taten sogar interessiert, als Don sich über die Wunder des Präparierens ausließ. Lottie beachtete ihn nicht weiter. Er war ja beschäftigt. Sie hätte Diego gerne mit Beschlag belegt, musste sich aber damit begnügen, gemeinsam mit Harry mit ihm zu plaudern. Lottie hatte sich nie Gedanken über Harry gemacht, doch in diesem Augenblick verabscheute sie Harry Haristeen. Selbst die wissenden Seitenblicke zu Fair verfehlten ihren Zweck. Fair zog Harry nicht fort von dem dunklen, gut aussehenden Mann, auch machte er keine Anstalten, Lottie bei ihren Flirtversuchen zu unterstützen.
»Ich weiß, ihr wundert euch, wie ich heute Abend hierher kommen kann, nach dem Vorfall bei Tante Tally, aber, also ich habe Reverend Jones angerufen, und er hat gesagt, ich soll meinem Herzen folgen. Schließlich bin ich nicht eng mit den O'Bannons befreundet, und Roger, der Arme, konnte ganz schön nerven. Er ist ja kein Verwandter und, na ja, die Menschen sterben nun mal. Was ist mit all den Footballspielern, die abkratzen, bevor sie vierzig sind?« Sie fuhr sich mit der Hand an die Kehle. »Und ihr wisst ja, wie Big Mim sein kann, wenn man nicht auf ihren Partys erscheint.«
»Das wissen wir«, sagten Harry und Fair wie aus einem Munde, was beide erröten ließ. Aufgrund der gemeinsam verbrachten Jahre hatten sie oft den gleichen Gedanken.
»Ist Big Mim denn so ein Drachen?« Thomas' angenehme Stimme überzog jedes Wort wie mit Honig. »Sie ist so liebenswürdig.«
»So lange man in ihrem Sinne handelt.« Lottie verzog den Mund zu einem Flunsch.
Don, der mit dem Finger unter seinem Halsbund entlangfuhr, meinte besonnen: »Man sollte die Gastgeberin nicht kritisieren, wenn man ihre Gastfreundschaft genießt.«
Thomas neigte den Kopf leicht zu Don. »Ein VirginiaGentleman.«
»Wer, Don?«, fragte Lottie erstaunt.
Harry wechselte das Thema, indem sie sich direkt an Don Clatterbuck wandte. »Wie steht's mit meinem Specht?«
»Steif gefroren.« Er lachte.
»Specht?«, fragte Thomas.
»Als ich vor ein paar Tagen aufgewacht bin, habe ich, vielmehr hat meine graue Katze Pewter einen Helmspecht gefunden. Das ist ein sehr großer Specht. Tot. Sie hat vorgegeben, er sei ihre Beute, was absurd ist, wenn man Pewter kennt, und ich habe sie schließlich überredet, ihn mir zu überlassen. Bin schleunigst damit zu Don. Er ist der Beste. Sie sollten seine Arbeiten sehen.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Museumsqualität.«