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»Sieh hin!«

Die Vision veränderte sich. Er sah sich selbst, einen abgemagerten, in Lumpen gekleideten Bettler vor einem Kessel voll seltsamen weißen Feuers, das blubberte und wirbelte und seinen Namen flüsterte. Nebel stiegen aus dem Kessel auf und bahnten sich ihren Weg zu ihm herunter, umhüllten ihn, liebkosten ihn, als wäre er ihr Kind. Schatten huschten um ihn herum, zogen zuerst an ihm vorbei, dann drangen sie in ihn ein wie in eine leere Hülle, in der es ihnen zu spielen beliebte. Er fühlte ihre Berührung; er wollte schreien.

»Sieh hin!«

Wieder veränderte sich die Vision. Sie offenbarte ihm ein riesiges Waldstück, in dessen Mitte sich ein hoher Berg erhob. Auf der Spitze des Berges ruhte ein Schloß, alt und verwittert, Türme und Mauern ragten in das Dunkel hinein. Paranor, dachte er. Paranor ist wieder da! Er spürte etwas Heiteres und Hoffnungsvolles in sich aufsteigen und wollte seine Freude hinausschreien. Aber schon schlangen sich die Nebel um das Schloß. Die Schatten huschten ganz nahe vorbei. Die uralte Festung begann zu bröckeln und zu zerfallen, die Mauern und der Mörtel brachen wie unter einem Schraubstock. Die Erde erzitterte, und Schreie erhoben sich von den Menschen, die zu Tieren wurden. Feuer trat aus der Erde und spaltete den Berg, auf dem Paranor ruhte, zerstörte schließlich das Schloß selbst. Wehklagen erfüllte die Luft, es war der Schrei eines seiner letzten Hoffnung Beraubten. Der alte Mann erkannte, daß es sein eigenes Wehklagen war, das er hörte.

Dann sah er nichts mehr. Er befand sich wieder vor dem Hadeshorn, im Schatten der Drachenzähne, ganz allein mit Allanon. Trotz der Erleichterung zitterte er.

Der Schatten deutete auf ihn. »All das, was du gesehen hast, wird Wirklichkeit, sollten die Träume keine Beach-tung finden. So wird es sein, wenn du nicht handelst. Du mußt helfen. Such sie auf – den Jungen, das Mädchen und den Dunklen Onkel. Erzähl ihnen, daß die Träume wahr sind. Bitte sie, mich in der ersten Nacht des neuen Mondes, wenn der Mondzyklus geschlossen ist, hier aufzusuchen. Dann werde ich mit ihnen sprechen.«

Der alte Mann zog die Stirn in Falten und murmelte vor sich hin, während sich seine Unterlippe sorgenvoll nach vorne schob. Seine Finger zogen noch einmal die Beutelschnur fest, bevor er den Beutel zurück in seinen Gürtel steckte. »Ich werde es tun, weil kein anderer dafür in Frage kommt«, sagte er schließlich und versuchte gar nicht, seinen Widerwillen zu verbergen. »Aber erwarte nicht…«

»Such sie nur auf. Das ist alles, was ich verlange. Das ist alles, worum ich dich bitte. Geh jetzt!«

Der Schatten Allanons schimmerte hell und verschwand. Das Licht verschwand, und das Tal war wieder leer. Der alte Mann stand da und blickte auf das ruhige Wasser des Sees, bevor er sich abwandte.

Als er zurückkehrte, brannte das Feuer, das er verlassen hatte, immer noch, doch es war jetzt weit heruntergebrannt und hob sich nur schwach gegen die Dunkelheit ab. Der alte Mann starrte gedankenverloren in die Flammen, um sich dann vor ihnen niederzukauern. Während er in der Asche herumstocherte, lauschte er der Stille seiner Gedanken.

Der Junge, das Mädchen und der Dunkle Onkel – er kannte sie. Sie, die Kinder von Shannara, konnten alle retten, sie konnten den Zauber wieder zum Leben erwecken. Er schüttelte sein ergrautes Haupt. Wie sollte es ihm gelingen, sie zu überzeugen? Wenn sie nicht einmal auf Allanon hörten, warum sollten sie dann auf ihn hören?

Noch einmal sah er im Geist die schrecklichen Visionen. Er wußte, daß er gut daran tat, einen Weg zu finden, um sich ihnen begreiflich zu machen. Er kannte ja die Kraft der Visionen – und dieses Wissen erfüllte ihn mit Stolz –, und die, die er gesehen hatte, entsprachen der Wahrheit, die sogar einer wie er, der den Druiden und ihrem Zauber abgeschworen hatte, erkennen konnte.

Falls die Kinder von Shannara nicht begriffen, würden diese Visionen Wirklichkeit werden.

2

Par Ohmsford stand in der hinteren Tür des Bierhauses und starrte auf die dunkle schmale Straße zwischen den angrenzenden Häusern hinaus, die sich irgendwann in den flackernden Lichtern von Varfleet verlief. Das Bierhaus war ein langgestrecktes baufälliges altes Gebäude mit verwitterten Bretterwänden und Dachschindeln und sah im wahrsten Sinne des Wortes aus, als hätte es irgendwann einmal jemandem als Stall gedient. Im oberen Stockwerk über dem Schankraum und den hinteren Lagerräumen befanden sich die Schlafzimmer. Das Gebäude selbst stand auf einem Hügel am westlichen Rand der Stadt am Ende einer Reihe von Häusern, die alle zusammen in Hufeisenform angeordnet waren.

Par atmete tief die Nachtluft ein und genoß den Duft, den sie verströmte. Gerüche der Stadt, Gerüche des Lebens, Fleisch- und Gemüseeintöpfe mit den verschiedensten Gewürzen, stark riechende Schnäpse und herbe Biere, wohlriechende Düfte, Lederwerk, glühendes Eisen, das über glimmenden Kohlen geschmiedet wurde, der Schweiß von Tieren und Menschen, die auf engem Raum zusammen waren, der Geruch von Stein und Holz und Staub, der sich vermischte und gelegentlich einzeln wahrzunehmen war – er kannte sie alle. Am unteren Ende der Gasse, hinter den mit Brettern vernagelten und beschmierten Rückseiten der Läden, fiel der Hügel zur Mitte der Stadt hin ab. Die Stadt, die bei Tage nichts weiter war als eine häßliche und farblose Ansammlung von Gebäuden, ein Labyrinth von steinernen Mauern und Straßen, hölzernen Verschlagen und teergeschwärzten Dächern, zeigte bei Nacht ein anderes Gesicht. Die Gebäude verloren in der Dunkelheit ihre Umrisse. Tausende von Lichtern erhellten die Stadt und erstreckten sich wie ein riesiger Schwarm von Leuchtkäfern, so weit das Auge reichte. Sie übersäten die unsichtbare Landschaft und flackerten in der Finsternis, während sie auf ihrem Weg nach Süden goldene Spuren auf der flüssigen Haut des Mermidon hinterließen. Dann war Varfleet wunderschön, aus dem Aschenputtel war wie durch Zauberhand eine Prinzessin geworden.

Par freute sich an dem Gedanken, daß die Stadt von einem Zauber umgeben war. Er liebte die Stadt sowieso, liebte sie, wie sie sich vor ihm erstreckte, liebte die Menschen und Dinge, die miteinander verschmolzen, liebte das pulsierende Leben. All das ließ sich in keiner Weise mit Shady Vale, dem von Wald umgebenen Dorf, in dem er aufgewachsen war, vergleichen. Die Reinheit der Bäume und Flüsse, die Einsamkeit, das Gefühl der Sorglosigkeit, von der das Leben im Tal erfüllt war, gab es hier nicht. Die Stadt wußte nichts von jenem Leben und hätte sich auch nicht das Geringste daraus gemacht. Par machte sich darüber jedoch keine Sorgen. Er liebte die Stadt bedingungslos. Und schließlich gab es keine Anzeichen dafür, daß er sich zwischen den beiden entscheiden mußte. Es gab keinen Grund, warum er sich nicht an beiden erfreuen sollte.

Coll war natürlich anderer Meinung. Coll sah die Dinge ganz anders. In seinen Augen war Varfleet nichts weiter als eine gesetzlose Stadt am Rande der Föderationsherrschaft, ein Räubernest, ein Ort, an dem jeder nach seinen eigenen Gesetzen lebte. Für ihn gab es in ganz Callahorn, um nicht zu sagen im ganzen Südland, keinen schrecklicheren Ort als diesen. Coll haßte die Stadt.