Was häufig geschah. Auf dem Deck dieses Schiffes war nicht viel Platz. Es war nicht sonderlich groß und schien zum Transport von Fracht bestimmt zu sein. Sie sah der Mannschaft zu und suchte sich einen Platz, wo sie niemandem im Weg war. Von dort beobachtete sie, wie das Schiff sich vom Pier entfernte, den Hafen hinter sich ließ und aufs Meer zusteuerte.
Das Deck begann sich unter ihr zu wiegen, und sie musste sich festhalten. Viele weitere Schiffe waren ebenfalls zur Mündung des Tarali unterwegs oder kamen ihnen entgegen, aber als ihr Boot sich weiter vom Land entfernte, blieben auch die meisten anderen Boote zurück. Nur eines nicht, dessen Segel zusammengerollt waren. Der Mann, der auf ihrem Schiff die Befehle gab – es musste wohl der Kapitän sein –, deutete auf dieses Schiff.
Sie betrachtete die winzigen Gestalten auf dem anderen Schiff. Als sie näher kamen, wurden die Einzelheiten deutlicher. Unter den Menschen an Bord befand sich ein Trio, das gemeinsam an der Reling stand. Schon bald konnte sie erkennen, dass es ein Mann und zwei Frauen waren. Sie erkannte Anyi als Erstes. Wie hätte es auch anders sein können? Ich würde sie an ihrem Schatten erkennen. An ihrer Präsenz. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Ich darf die Sache nicht vermasseln. Sonst wird sie sterben. Vielleicht sollte ich von meinem Plan ablassen und tun, was immer Skellin befiehlt. Aber wird er sie wirklich gehen lassen, wenn ich gehorche? Wird er sie behalten und mich zwingen zu bleiben und ihm alles beizubringen, was ich über Magie weiß?
Sie wappnete sich und betrachtete die beiden anderen Personen. Die Boote waren sich jetzt nah genug, dass sie in der zweiten Frau Lorandra erkannte. Dann musste der Mann ihr Sohn sein.
Dies ist also Skellin. Er war hochgewachsen wie ein Lanz, aber dunkelhäutig wie ein Lonmar. Da jedoch beide Völker für ihr Ehrgefühl und ihre strengen Moralvorstellungen bekannt sind, bezweifle ich, dass ihnen der Vergleich gefallen würde. Trotzdem, er ist wahrscheinlich nicht das beste Beispiel seines eigenen Volkes … Es hat einen Außenseiter gebraucht, jemanden, der bereit war, unsere Regeln und Gesetze zu brechen, um uns unsere Schwächen aufzuzeigen. Was könnten wir über uns selbst gelernt haben, wenn die ersten Menschen aus Igra, die uns besucht hatten, anständig und gesetzestreu gewesen wären?
Das Schiff verlangsamte seine Fahrt und drehte bei, so dass die Boote jetzt nebeneinander trieben. Lilia konnte Aktivitäten um sich herum hören – der Anker wurde herabgelassen und die Segel eingerollt, vermutete sie –, aber sie konnte den Blick nicht von dem Trio auf dem anderen Schiff losreißen. Es war nur zwanzig oder dreißig Schritt von ihr entfernt.
– Rothen sagt, du sollst tun, was immer du tun musst, um Anyi sicher wegzubringen, sandte Gol.
Lilia nickte, dann hoffte sie, dass Skellin, falls er die Bewegung wahrgenommen hatte, es für eine Geste des Wiedererkennens hielt. Der wilde Magier winkte.
»Kommt und gesellt Euch zu uns, Lilia«, rief er.
Sie schätzte den Abstand zwischen den Schiffen ab und wandte sich dann der Mannschaft zu. Die Seeleute beobachteten sie, machten aber keine Anstalten, ein Boot zu Wasser zu lassen. Wie sollte sie auf das andere Schiff gelangen?
– Kannst du schweben?, fragte Gol.
– Ja, aber es wird etwas von meiner Magie verbrauchen.
Was wahrscheinlich Skellins Absicht war. Trotzdem, das Schweben über diese kleine Distanz hinweg würde nicht allzu viel Magie verbrauchen, wenn sie sich beeilte.
Sie zog Macht in sich hinein, schuf eine kleine Scheibe der Kraft unter ihren Füßen und schwebte empor. Skellin, Lorandra und Anyi traten von der Reling weg, um ihr Platz zu machen. Lorandra hielt Anyi am Arm fest. Sobald ihre Füße auf dem Deck waren, schaute Lilia auf und sah, dass die Frau Anyi ein Messer an die Kehle hielt. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und ein kalter Schauer überlief sie. Anyi stand steif da, breitbeinig wegen des Schaukelns des Schiffes, und als sie Lilia ansah, waren ihre Augen voller Bedauern, Zorn und Furcht.
»Lady Lilia«, begrüßte Skellin sie. »Ich bin ja so froh, dass Ihr meine Einladung angenommen habt.«
Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten, ohne zusammenzuzucken. Du magst denken, dass du der König der Unterwelt bist, dachte sie. Aber ich bin eine Schwarzmagierin, Verteidigerin der Gilde. Der Stolz, den sie empfand, war überraschend und vielleicht ein wenig unangemessen, aber das scherte sie nicht, solange er ihr das Selbstbewusstsein schenkte, ihm die Stirn zu bieten.
Im Gegensatz zu seiner Mutter hatte er keinen unvertrauten Akzent. Er hielt inne, als warte er auf eine Antwort, und als sie nichts sagte, lächelte er. »Nun, Ihr seid seit einigen Stunden auf den Beinen, und frühes Aufstehen gefällt nicht jedem. Vielleicht sollten wir zur Sache kommen. Ich habe einen Vorschlag für Euch. Einen Handel. Lehrt mich schwarze Magie, und ich werde diese entzückende junge Frau in Eure Obhut geben. Ich glaube, Ihr kennt sie?«
Als er auf Anyi zeigte, drehte sich das Messer an der Kehle des Mädchens in Lorandras Hand und spiegelte einen Sonnenstrahl in Lilias Augen.
Lilia ignorierte es. »Lasst sie jetzt gehen.«
Skellin schüttelte den Kopf und lachte.
»Woher weiß ich, dass Ihr sie nicht töten werdet«, fuhr Lilia fort, »sobald ich Euch gegeben habe, was Ihr wollt?«
»Woher weiß ich, dass Ihr mich nicht töten werdet, sobald ich sie gehen lasse? Ihr seid schließlich eine Schwarzmagierin.«
»Und Ihr seid ein mörderischer wilder Magier und Dieb.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Nun, nun. Wann habt Ihr mich jemals jemanden töten sehen?«
Sie öffnete den Mund, um zu antworten, dann schloss sie ihn wieder. Sie hatte ihn nie bei einem Mord beobachtet. Nicht einmal Cery hatte das. Anyis Vater war gestorben, als sein Herz versagt hatte, obwohl das wahrscheinlich von der Anspannung verursacht worden war, dass Skellin Jagd auf ihn gemacht hatte. Lorandra war die Jägerin der Diebe gewesen. Aber so handhabten die Diebe es, nicht wahr? Sie machten sich die Hände nicht schmutzig. Sie hatten andere, die das für sie taten.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Bringen wir es hinter uns.«
Er grinste. »Meine Güte, ist das nicht etwas ungeduldig?« Er machte ein paar Schritte auf sie zu, dann blieb er stehen. »Aber zuerst müsst Ihr Eure Kleider ausziehen.«
Sie starrte ihn an. »Was?« Das Wort platzte förmlich aus ihr heraus.
Sein Lächeln verschwand. »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, Lady Lilia«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich weiß, dass schwarze Magie erforderlich macht, dass die Haut einen Schnitt bekommt. Ich brauche die Versicherung, dass Ihr keine scharfen Gegenstände bei Euch tragt. Ihr könnt sicher sein, dass ich das nicht tue, da ich es nicht riskieren will, dass Ihr meine eigene Klinge gegen mich wendet. Ich könnte einen Mann aus der Mannschaft bitten, Euch zu überprüfen, aber Ihr könntet ihn töten, und es wäre Euch wahrscheinlich lieber, nicht begrapscht zu werden. Ihr braucht Euch nur bis zu dem Punkt zu entkleiden, an dem klar ist, dass Ihr keine Waffen bei Euch tragt.«
Schwer schluckend zog sie die abgetragene alte Robe und die Hosen aus. Dann funkelte sie Skellin an und forderte ihn dazu heraus, darauf zu bestehen, dass sie die schlichten Untergewänder ablegte, die die Frauen der Gilde unter ihren Roben trugen. Von den Mannschaften der Schiffe kamen leise Pfiffe, aber sie verstummten, als Skellin sich mit strenger Miene umsah.
»Tretet die Kleider weg und dreht Euch um«, befahl er. Seufzend gehorchte sie. »Nun, für den Anfang werdet Ihr mich lehren, wie man Gedanken liest.«
Lilia erstarrte, dann fluchte sie im Stillen. Wenn sie erklärte, dass die Abmachung lediglich vorsah, dass sie ihm schwarze Magie beibrachte, würde er sie auslachen. Sie war nicht in der Position zu argumentieren.
»Ihr benötigt jemanden zum Üben«, erklärte sie ihm.