»Sie ist drüben bei den Toren.«
Sie ergriff seine Hand und zog ihn um die Menge herum zu der Wand des Herrenhauses. Savaras Stimme wurde lauter, als sie sich näherten, und sie war voller Selbstbewusstsein und Leidenschaft.
»Spart die Steine nicht auf. Dies ist es, wofür sie geschaffen wurden. Werkzeuge, um Bande zu brechen, um unsere Zukunft zu erschaffen, um alle gleich zu machen. Um Sachaka Freiheit zu bringen.«
»Freiheit!«, riefen die Verräter.
Der unerwartete Aufschrei jagte Lorkin einen leichten Schrecken ein. Als der Ruf ein zweites Mal erklang, war er bereit dafür, und diesmal beschleunigte sich sein Puls, weil ihn die Begeisterung ansteckte. Sobald sie die Wand erreicht hatten, schlängelte sich Tyvara durch die Menschen, die mit verzückter Miene ihre Königin anschauten. Schließlich brachen sie durch die Menge und fanden die Königin auf einem Karren stehend vor, umringt von den Sprecherinnen, gerade als ihre Ansprache endete.
»Heute bringen wir Sachakaner zusammen, geeint in Freiheit!«, beendete sie ihre Rede.
»Freiheit!«, riefen erneut alle. Die Worte wurden zu einem Gesang, als Savara von dem Karren herunterstieg und vorwärtsschritt. Die Menge teilte sich, um sie durchzulassen. Die Sprecherinnen eilten hinter ihr her, und Tyvara machte förmlich einen Satz vorwärts und zerrte Lorkin mit sich, so dass sie sich zu den Sprecherinnen gesellten, bevor die Masse der Verräter sich ihnen anschloss.
Sie erreichten Savara gerade, als die Königin aus der Menge heraustrat. Die Sprecherinnen rückten seitlich etwas ab, bis sie eine Linie quer über die Straße bildeten. Chaos mündete in Ordnung, als die Verräter sich in Marsch setzten, um den Sprecherinnen zu folgen, die ihre Gruppen anführten. Tyvara schaute sich um, dann blickte sie über die Schulter.
»Ich kann Kalia nicht sehen«, zischte sie. »Du?«
»Nein.« Lorkin schüttelte den Kopf, während er nach der Frau Ausschau hielt.
»Oh, sie ist zurückgeblieben«, erklang eine Stimme zu seiner Linken. Als er sich umdrehte, sah er, dass Chari, die Frau, die ihnen geholfen hatte, ins Sanktuarium zu fliehen, neben ihm erschienen war. »Sie bereitet sich darauf vor, die Verletzten zu behandeln.«
»Nun, das ist ein Grund weniger zur Sorge«, murmelte Tyvara. »Jetzt müssen wir nur mit denen fertig werden.«
Lorkin folgte ihrem Blick und schaute an der Schulter der Königin vorbei, um festzustellen, dass er es sich nicht eingebildet hatte: Die Straße vor ihnen wurde von einer weiteren Menschenmenge versperrt, die schnell näher kam. Sonnenlicht glitzerte auf juwelenbesetzten Jacken.
All diese Edelsteine, dachte Lorkin. Haben die Ashaki der fernen Vergangenheit ihre Kleidung mit magischen Steinen geschmückt? Hat die Tradition überlebt, obwohl das Wissen um die Herstellung von Steinen verloren gegangen ist?
Obwohl sie sich nur im Schritttempo bewegten, schienen die beiden Armeen aufeinander zuzueilen. Lorkins Herz raste. Das ist es. Entweder werde ich am Ende dieser Schlacht leben oder nicht. Verflucht – ich wollte mich mit Mutter in Verbindung setzten. Überall um ihn herum griffen Verräter nach den ersten Steinen in ihren Westen. Zu spät jetzt. Lorkin holte tief Luft und tat es ihnen gleich. Er nahm einen Schild – und einen Angriffsstein. Als Tyvara an die rechte Seite der Königin trat, bezog er einen Platz auf der linken Seite.
Der Abstand zwischen den beiden Heeren schrumpfte von einigen hundert Schritt auf weniger als achtzig. Die Königin hob einen Stein, bereit zum Angriff. Die Sprecherinnen taten das Gleiche. Als Lorkin zum Feind hinüberschaute, sah er die entschlossenen Gesichter der Ashaki. Sah die finsteren Blicke des Hasses und das erwartungsvolle Grinsen. Er sah den König, und sein Blut gefror ihm in den Adern. Der alte Mann betrachtete die Eindringlinge in seiner Stadt mit einem hochmütigen Blick.
Auf irgendein Signal hin, das Lorkin nicht bemerkte, griffen beide Seiten an. Er konnte nicht erkennen, wer den Anfang machte. Im einen Moment war der Raum zwischen den Armeen geladen vor Erwartung, im nächsten zischelte er vor Magie. Er drückte automatisch den Schildstein und spürte, wie er aktiv wurde und der Schild gegen den von Savara und den der Sprecherin links von ihm prallte, bevor er zwischen beiden seinen festen Platz fand. Savara griff an, aber Tyvara hielt ihren Angriffsstein lediglich bereit, wie sie es ihn zu tun instruiert hatte. Sie würden sich später in die Schlacht stürzen; für den Moment war es ihre Aufgabe, die Königin zu beschützen.
Beide Seiten waren zum Stillstand gekommen. Lorkin kämpfte gegen den Drang, vor den gefährlichen Schlägen zurückzuweichen. Sie haben nicht einmal versucht, das Wort aneinander zu richten, begriff er. Nicht einmal, um ihren Gegner zu beleidigen. Den Geschichtsbüchern zufolge forderte ein Heerführer den Feind stets zur Kapitulation auf. Doch nicht diesmal.
Es ist nicht so, dass die Verräter und die Ashaki glauben, die andere Seite würde niemals akzeptieren. Es liegt daran, dass sie keine Kapitulation anbieten. Jede Seite beabsichtigt, die andere auszulöschen. Jeden letzten Verräter oder Ashaki zu töten. Er schauderte. Selbst die Ichani haben der Gilde das Angebot gemacht, nachzugeben und einen Kampf zu vermeiden.
Nicht anzugreifen bedeutete, dass er die Gelegenheit hatte zuzuschauen. Die Ashaki standen reglos da, während die Verräter in ständiger Bewegung waren. Er brannte darauf, die von den Verrätern entwickelte und eingeübte Kampftaktik in Aktion zu erleben. Die Königin und die Sprecherinnen blieben vorn, und er und Tyvara verharrten als die Beschützer der Königin. Die übrigen Verräter formten Kolonnen hinter den Sprecherinnen. Wenn sie die Front erreichten, traten sie jeweils neben eine Sprecherin. Wenn sie sich links neben ihre Sprecherin stellten, ließen sie die Kraft eines Steins in den Schild der vorderen Reihe fließen; traten sie rechts neben sie, benutzten sie einen Angriffsstein. Wenn ihr Stein erschöpft war, zogen sie sich wieder ans Ende ihrer Kolonne zurück.
Dies sorgte dafür, dass die Verräter erst die meisten Steine verbrauchten, bevor ihre Magierinnen begannen, ihren eigenen Vorrat an Macht zu benutzen. Es war viel einfacher, schnell auf abrupte und unerwartete Attacken mit persönlicher Magie zu reagieren als mit Steinen, daher hielt man sie in Reserve.
Von hinten kamen Warnrufe. Lorkin drehte sich um. Etwas geschah auf der rechten Seite der Verräterarmee.
»Was geht dort vor?«, fragte Savara. Verräter in den Kolonnen auf der rechten Seite riefen einander etwas zu. Diejenigen, die am nächsten waren, drehten sich um, um Tyvara zu berichten, was sie hörten. Lorkin fing Bruchstücke ihrer Worte auf.
»Angriff von rechts«, wiederholte Tyvara. »Sieben Ashaki. Alle erledigt.«
Lorkin sah, wie Savara vor Erleichterung und Befriedigung lächelte, und verspürte ein kleines Aufwallen von Triumph.
Die Ashaki sind Narren, wenn sie denken, wir seien auf diese Art von Angriff nicht vorbereitet.
»Lorkin«, zischte Tyvara.
Als er sich umdrehte, sah er, dass sie besorgt die Stirn runzelte. Sie machte eine ruckartige Kopfbewegung und schaute zu der Verräterarmee zurück, während sie gleichzeitig mit den Lippen ein Wort formte. Sein Blut gefror.
Kalia.
Er fuhr herum und betrachtete die Gesichter in den Kolonnen hinter ihr, aber von der Frau sah er keine Spur. Vielleicht hat Tyvara jemanden erblickt, der Kalia ein wenig ähnlich sah. Nein, sie macht nicht im Mindesten den Eindruck, als zweifle sie. Also, wo ist Kalia?
Nicht hinter Tyvara. Er drehte sich um, um die Verräter hinter sich selbst abzusuchen, und sein Herz wurde zu Eis. Kalia war nur wenige Schritte entfernt und schlüpfte in die nächste Kolonne, wo ein Verräter abgelenkt war und seine Weste befingerte. Lorkin stieß ihren Namen hervor, zog Magie in sich hinein und zog einen Schild hinter sich selbst, Savara und Tyvara hoch. Der Schild stieß gegen einen anderen, und Lorkin begriff, dass Tyvara bereits das Gleiche getan hatte.