31
Belohnungen
Dieser gehetzte Blick ist wieder in Anyis Augen getreten, bemerkte Lilia, als sie aus ihrem Schlafzimmer kam. Sie kniete sich neben den Stuhl und schlang die Arme um ihre Freundin. Anyi versteifte sich kurz und drehte sich dann um, um Lilia anzusehen.
»Ich weiß, du hast ihn draußen im Wald begraben, aber es ist nicht richtig. Wir müssen ihn zu seiner Familie bringen.«
»Wo liegt sie denn begraben?«
»Ich bin mir nicht sicher. Gol wird es wissen.«
Lilia küsste sie. Als Anyi die Arme um sie legte, klopfte es an der Tür, und beide Mädchen erstarrten. Lilia zog sich zurück und seufzte. Sie stand auf und sandte ein wenig Magie zur Tür, um sie zu öffnen.
»Gol«, sagte Anyi mit offensichtlicher Erleichterung, als der massige Mann zusammen mit Lord Rothen eintrat. »Wie ist es gelaufen?«
Er setzte sich. »Die Dinge werden wirklich schnell wieder so sein, wie sie waren. Die Diebe haben sofort aufgehört, sich ›Prinzen‹ zu nennen, und sie nehmen sich, worüber sie vorher die Kontrolle hatten – und alles andere, was sie zu fassen bekommen. Wenn du Cerys Territorium übernehmen willst, musst du jetzt handeln.«
Anyi runzelte die Stirn. »Werden seine Leute für mich arbeiten?«
Gol nickte. »Diejenigen, die ich gefragt habe, waren sehr interessiert. Sie hätten lieber dich als einen der Nachbarn. Es hilft, dass du Cerys Tochter bist, aber in gewisser Weise wird es das auch härter machen. Cery konnte keine Gefälligkeiten mehr einfordern und schuldete selbst vielen Leuten einen Gefallen, aber er hatte Geld versteckt und genoss Ansehen, weil er dafür bekannt war, seine Versprechen zu halten.«
Lilia beobachtete Anyis Gesicht, und ihr wurde flau im Magen, als die Züge ihrer Freundin sich verhärteten.
»Ich werde es tun.« Sie blickte zu Gol auf. »Aber nur, wenn du mir hilfst.«
Gol lächelte. »Ich hatte gehofft, dass du mich wollen würdest. Nicht, dass ich nicht gern in den Ruhestand treten würde.«
»Ich schicke dich in den Ruhestand«, erklärte Anyi. »Du wirst nicht mein Leibwächter sein, du wirst mein Stellvertreter sein. Wie du es für meinen Vater warst. Ich weiß nicht, warum er dich nicht auch so genannt hat.«
»Um mich zu einer geringeren Zielscheibe zu machen«, erwiderte Gol.
»Nun, du kannst nicht länger so tun, als seist du ein Leibwächter. Niemand wird glauben, dass ich einen Leibwächter ausgewählt habe, der doppelt so alt ist wie ich.«
Gol verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich würde dich immer noch jederzeit besiegen.«
Anyi stand auf. »Oh, wirklich? Wollen wir doch mal sehen …«
»Ich entschuldige mich für die Unterbrechung«, warf Rothen ein, »aber darf ich vorschlagen, dass ihr diese Theorie an einem anderen Ort als in Soneas Quartieren erprobt? Und die Höheren Magier werden es nicht gut aufnehmen, wenn wir zu spät kommen, vor allem, nachdem wir darauf bestanden haben, dass diese Versammlung so bald wie möglich stattfindet.«
Anyi sah ihn nachdenklich an, dann richtete sie ihren Blick auf Lilia. Ihre Miene war entschuldigend.
»Es tut mir leid, Lilia, aber wenn ich den Platz meines Vaters einnehmen soll, kann ich nicht zu dieser Versammlung gehen.«
Lilia starrte sie an. »Aber … du musst deine Geschichte erzählen, das ist wichtig.«
»Nein, ist es nicht. Es wird keinen Unterschied machen, ob ich sie erzähle oder du oder Lord Rothen.« Anyis Miene war ernst. »Wir wissen, dass Skellin Verbündete in der Gilde hatte. Wer kann sagen, welcher Dieb diese Verbündeten adoptiert oder geerbt hat? Falls diese Spione nicht wissen, wie ich aussehe, dann sollte es auch so bleiben. Wenn sie es wissen, sollte ich sie nicht daran erinnern.«
Lilias Herz hatte zu rasen begonnen. »Aber … wie wirst du mich besuchen? Ich darf das Gelände nicht verlassen. Sobald die Gilde herausfindet, dass ein Dieb in den Tunneln gelebt hat und dass Skellin dort war, werden sie alle Gänge zuschütten.«
Anyi ging zu Lilia hinüber und umarmte sie. »Wir werden andere Wege finden. Du hast doch nicht gedacht, dass wir hier zusammenleben könnten, oder?«
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Du wirst bald deinen Abschluss haben. Dann werden sie dich vom Gelände der Gilde lassen. Vielleicht werden sie dir sogar erlauben, in der Stadt zu leben, wie andere Magier es tun. Was immer geschieht, wir werden einander nach wie vor sehen. Niemand kann uns daran hindern, zusammen zu sein.« Anyi löste sich von Lilia, dann wandte sie sich an Gol. »Ich werde in die andere Richtung hinausgehen. Du wirst nicht hineinpassen, und die Leute könnten dich beim Hereinkommen gesehen haben, daher solltest du besser mit Rothen gehen. Ich treffe dich dann bei Donia.«
»Bist du dir sicher, dass du diesen Weg nehmen willst?«, fragte Gol.
Anyi nickte. »Ich werde schon zurechtkommen.«
»Halte nur … halte die Lampenflamme bedeckt. Ich weiß nicht, wie viel Minenfeuer verschüttet wurde.«
Anyi nickte, dann sah sie Lilia erwartungsvoll an. Lilia verstand den Fingerzeig, ging zur Tür und führte Rothen und Gol hinaus. Sie schaute zurück und sah Anyi winken, bevor die Tür sich schloss. Ich hoffe, dass sie sicher ist, wenn sie allein zurück in die Stadt geht.
Sie machte sich während des ganzen Weges zum Büro des Administrators Sorgen deswegen. Sie nahmen einen Umweg, der sie zuerst vor die Universität führte, wo Rothen dafür sorgte, dass eine Kutsche Gol abholte. Vor Osens Tür stießen sie dann auf Jonna, die dort auf sie wartete. Die Dienerin sah ein wenig blass aus, aber sie lächelte und drückte Lilia die Hand, während Rothen anklopfte.
»Für mich ist das alles nicht neu«, erinnerte Lilia Jonna im Flüsterton.
»Für mich schon«, erwiderte Jonna.
Die Tür schwang nach innen auf, und sie traten in einen Raum voller Höherer Magier.
»Ah, gut«, sagte Osen, als Lilia und Jonna sich verneigten. Er runzelte die Stirn. »Gab es noch mehr Zeugen, die ihre Geschichten erzählen wollen, Lord Rothen?«
»Nein, Administrator«, entgegnete Rothen. »Ihr habt vielleicht den Wunsch, die Mannschaft zu verhören, die ich vor zwei Tagen in Gewahrsam genommen habe, aber für den Moment sollten ich, Lady Lilia und Jonna, Soneas Dienerin, imstande sein, die Ereignisse zu beschreiben, ohne dass es zu unnötigen Wiederholungen kommt.«
»Gut. Wer wird den Anfang machen?«
»Ich denke, Lady Lilia ist am besten geeignet zu erklären, wo alles begonnen hat«, sagte Rothen und drehte sich zu ihr um.
Lilia holte tief Luft. »Seit einiger Zeit hat Anyi – meine Freundin und die Leibwächterin des Diebes Cery – mich auf dem Weg durch unterirdische Gänge in der Gilde besucht …« Als Lilia die Gesichter der Höheren Magier beobachtete, sah sie, wie Blicke schärfer und Kiefer härter wurden, aber während sie von dem Eintreffen Cerys und seines verletzten Leibwächters erzählte, wurden einige Mienen weicher. Kallen runzelte die Stirn, aber sie konnte nicht erkennen, ob aus Missbilligung darüber, dass sie dieses Geheimnis vor ihm gehabt hatte, oder aus Schuldgefühl dafür, dass er nicht in der Lage gewesen war, Skellin rechtzeitig zu finden.
Einige Magier lächelten über die Falle, die Cery geplant hatte, um Skellin direkt in ihre Mitte zu bringen. Aber dann verblassten alle Spuren von Erheiterung, als sie schilderte, wie die Falle versagt hatte; sie berichtete von Cerys Tod und Anyis Entführung, und sie sah zu ihrer Befriedigung Missfallen in allen Gesichtern über Skellins Behauptung, er habe Quellen in der Gilde.
Danach übernahm Rothen und erzählte von ihrem Plan, Anyi auf eigene Faust und ohne die Hilfe oder Zustimmung der Gilde zu retten, aus Furcht, sonst Skellins Quelle zu informieren. Er hörte an dem Punkt auf, an dem Lilia an Bord des Schiffes gegangen war, und sah sie an, damit sie die Geschichte zu Ende brachte.
Es war schwerer als erwartet zu beschreiben, wie sie Skellin und Lorandra besiegt hatte. Ich habe jemanden mit schwarzer Magie getötet. Und doch war Skellins Tod nicht so abscheulich wie der Lorandras. Jetzt wie damals erinnerte sie sich an die Schreie der Frau. Was an dem Tag selbst leicht zu vergessen gewesen war, hatte sich in eine Erinnerung verwandelt, die sich weigerte zu verblassen.