Balkan verzog das Gesicht. »Lilia ist keine geborene Kriegerin. Ihre Reflexe und ihre Auffassungsgabe sind gut, und ihre Verteidigung ist stark, aber sie zeigt im Kampf keine Initiative.«
»Ah«, sagte Sonea lächelnd. »Ein vertrautes Problem.«
Glarrin sah sie an und zog eine Augenbraue hoch.
»Bei mir war es das Gleiche«, erklärte sie. »Wenn nur Lord Yikmo nicht bei der Invasion getötet worden wäre. Er war gut darin, widerstrebende Novizen zu unterrichten.«
»Lady Rol Ley hat Yikmos Methoden studiert«, sagte Balkan mit nachdenklicher Miene. »Sie unterrichtet viele der Standardkurse, die alle Novizen besuchen, daher wird sie Lilias Stärken und Schwächen kennen.«
»Dann könnte sie vielleicht helfen«, erwiderte Sonea. »Ich würde mich ebenfalls anbieten, wenn ich nicht aufbrechen müsste.«
»Vielleicht könnt Ihr es tun, wenn Ihr zurückkommt«, sagte Osen. »Gibt es sonst noch etwas, das wir besprechen müssen?«
»Nichts, was nicht durch Blutringe übermittelt werden könnte«, erwiderte Glarrin. »Wir sollten Soneas Aufbruch nicht länger als notwendig hinauszögern.«
Osen sah sie an. »Müsst Ihr noch irgendetwas tun, bevor Ihr aufbrecht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Dann solltet Ihr nun Euren Assistenten wissen lassen, dass Ihr morgen Nacht abreisen werdet.«
Sie stand auf. »Das werde ich gleich als Nächstes erledigen.«
Kriegskunst des Abschlussjahres war in Lilias Zukunftsplänen nie vorgesehen gewesen. Nach den Regeln der Universität erfüllte sie die Mindestanforderungen dieses Faches in Theorie und Praxis, die für alle Novizen für den Studienabschluss vorgeschrieben waren. Sie sollte also eigentlich bei den Heilern sein und dort fortgeschrittene Techniken erlernen, statt sich von Novizen, die bald die nächste Generation rotgewandeter Kriegsmagier sein würden, nach Strich und Faden vorführen und regelrecht verprügeln zu lassen.
Die anderen Novizen fanden Lilias Anwesenheit in der Klasse faszinierend. Es kam nicht jeden Tag vor, dass ein Novize oder Magier die Gelegenheit erhielt, den Kampf gegen einen Schwarzmagier zu üben. Es schien ihnen nicht einmal etwas auszumachen, dass sie nicht gut darin war, denn die Lektionen waren größtenteils Demonstrationen, bei denen wenig echte Magie benutzt wurde. Sie durfte keine Macht nehmen und speichern – nicht einmal, wenn diese Macht freiwillig gegeben wurde. Aber sie musste zugeben, dass sie die Lektionen genauso interessant fand wie die anderen Novizen, solange sie nicht von ihr verlangten, Entscheidungen zu treffen oder die Initiative zu ergreifen.
Schwarze Magie veränderte gewiss die Dynamik eines Kampfes. Sie hätte gedacht, dass die Fähigkeit, einer anderen Person Magie zu stehlen, im Kampf die nützlichste Fähigkeit eines Schwarzmagiers wäre, aber das traf nicht zu. Denn dazu musste sie dem Gegner nahe genug kommen, um ihm die Haut aufzuschneiden und seine natürliche Barriere gegen magische Eingriffe zu durchbrechen. Bis sie aber einen Feind so weit zermürbt hatte, dass er das zuließ, gab es bei ihm kaum noch magische Energie zu holen.
Die Fähigkeit, Magie zu speichern, war ein viel größerer Vorteil. Es war beunruhigend, wie überflüssig nicht-schwarze Magier wurden, sobald sie ihre Macht einem Schwarzmagier überlassen hatten. Es war außerdem beängstigend zu begreifen, wie wichtig es die Schwarzmagier machte, wichtiger als die anderen. Und es machte sie zu einer größeren Zielscheibe.
Wenn es darum ging, tatsächlich einen Kampf auszutragen, traf sie fast immer die falschen Entscheidungen, handelte zu früh oder zögerte zu lange. Als ihr letzter Angriff wirkungslos am Schild ihres Gegners abprallte, unterbrach Schwarzmagier Kallen den Kampf.
»Schon besser«, sagte er zu ihr. Er blickte sich in der Arena um. Die hohen Türme, die die unsichtbare magische Barriere trugen, die alles außerhalb der Arena vor den Übungskämpfen im Inneren schützte, warfen jetzt kürzere Schatten auf den Boden. »Das ist genug«, sagte er und betrachtete die angehenden Krieger. »Ihr dürft gehen.«
Sie alle wirkten überrascht, erhoben jedoch keine Einwände. Kallen wartete, während sie durch den kurzen Tunneleingang davongingen, dann trat er neben Lilia, als sie ihnen folgte.
»Warte, Lilia«, forderte er sie auf, als sie auf der anderen Seite aus dem Tunnel herauskamen.
Er sagte nichts, während die anderen Novizen davoneilten, aber dann seufzte er. Als Lilia zu ihm aufschaute, sah sie, dass er die Stirn runzelte, aber seine Miene glättete sich, als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete. Sie senkte den Blick und wartete auf sein Urteil.
»Du wirst besser«, erklärte er. »Es mag sich nicht so anfühlen, aber du lernst, wie du auf verschiedene Herausforderungen reagieren musst.«
»Wirklich?« Sie blinzelte überrascht. »Ihr habt so … enttäuscht gewirkt.«
Sein Mund verzog sich zu einer grimmigen Linie, und er blickte zur Universität hinüber. »Ich ärgere mich nur über meine eigenen Mängel.«
Als sie genauer hinschaute, sah sie Anspannung in seinen Zügen. Etwas an seinen Augen versetzte ihr einen jähen Stich, als eine Erinnerung an Naki in ihr aufstieg. Naki mit dem gleichen bekümmerten Ausdruck. Für gewöhnlich hatte sie in dieser Stimmung sehr bald ihren Feuel-Ofen angezündet.
Ein Schauer der Erkenntnis überlief Lilia. Sie hatte schon ein oder zwei Mal Feuel-Rauch an Kallens Roben wahrgenommen, glücklicherweise jedoch noch nie in einer Kriegskunststunde. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, gegen jemanden zu kämpfen oder sich auf den Schild von jemandem zu verlassen, der eine Droge nahm, die seine Fähigkeit verringerte, Anteil an seinen eigenen Taten zu nehmen.
Wenn er vor dieser Lektion kein Feuel geraucht hatte, verlangte es ihn jetzt danach? War das der Grund, warum er den Unterricht vorzeitig beendet hatte?
Er trat einen Schritt zurück und öffnete den Mund, um zu sprechen. »Nun, das ist alles …«
»Ich habe eine Nachricht von Cery«, unterbrach sie ihn.
Er hielt inne, und sein Blick schärfte sich. »Ja?«
»Er ist überfallen worden. Irgendjemand hat ihn verraten. Er musste sich verstecken und alle Welt glauben machen, er sei tot. Ihr werdet ihn für eine Weile nicht treffen können. Es ist zu riskant.«
Kallen zog die Brauen herunter. »Ist er verletzt worden?«
Sie schüttelte den Kopf und verspürte Dankbarkeit ob seiner Sorge. Nicht das, was ich erwartet hätte. Vielleicht ist er nicht ganz so kalt und starr, wie ich dachte. »Einer seiner Leibwächter wurde verletzt, aber ihm geht es jetzt gut. Er lässt Euch bitten, niemandem zu verraten, dass er noch lebt, und dass Ihr Nachrichten über mich und Anyi schicken sollt.«
»Du siehst Anyi oft?«
Sie nickte.
Seine Augen wurden schmal. »Du verlässt doch nicht das Grundstück der Gilde, um sie zu sehen, oder?«
»Nein.«
Er musterte sie nachdenklich, als grüble er darüber nach, ob sie log oder nicht.
»Cery wüsste gern, ob Ihr irgendwelche Fortschritte bei der Suche nach Skellin gemacht habt«, erklärte sie.
»Keine. Wir folgen einigen Spuren, aber bisher hat sich nichts Vielversprechendes ergeben.«
»Gibt es irgendetwas, wonach ich Cery fragen soll?«
Der Blick, mit dem er sie bedachte, verbarg seine Skepsis nicht. »Nein. Wenn ich etwas herausfinde, das er wissen muss, werde ich es weitergeben.« Er blickte wieder zur Universität hinüber. »Du darfst jetzt gehen.«
Lilia unterdrückte angesichts ihrer Entlassung einen Seufzer, verneigte sich und ging davon. Nach mehreren Schritten schaute sie zurück und erhaschte einen Blick auf Kallen, bevor er hinter dem Gebäude der Universität verschwand. Der eingeschlagenen Richtung nach zu schließen, vermutete sie, dass er zu den Magierquartieren wollte.
Um sich eine Dosis Feuel zu genehmigen?, fragte sie sich. Hat er mir deshalb nichts von seiner Suche nach Skellin erzählt, weil er denkt, dass Cery und ich es nicht wissen müssen, oder hätte es zu lange gedauert und ihn von der Droge ferngehalten?
Und warum habe ich nicht dieses Verlangen danach? Sie hatte seit Monaten kein Feuel geraucht. Der Geruch von Feuel weckte in ihr bisweilen ein gewisses Verlangen, aber nichts, was ihre Entschlossenheit, es nie wieder zu benutzen, erschüttern konnte. Dunia, die Bolhausbesitzerin, die Lilia geholfen hatte, sich vor Lorandra und der Gilde zu verstecken, hatte gesagt, dass die Droge sich unterschiedlich auf die Menschen auswirke.