Sonea betrachtete den Stuhl und schüttelte den Kopf. »Ich sollte besser nicht zu viel von Eurer Zeit beanspruchen, wenn man bedenkt, was ich Euch zu sagen habe.« Sie begegnete seinem Blick. Er beobachtete sie mit intensiver Reglosigkeit. Mit einer Erwartung. Plötzlich ergab der Mangel an persönlichen Habseligkeiten einen Sinn: Er hatte gewusst, dass er vielleicht bald aufbrechen würde, warum also sollte er persönliche Dinge hierherbringen? »Wir werden morgen Nacht aufbrechen«, erklärte sie.
Er atmete hörbar aus, wandte den Blick ab und nickte. Sie fing einen flüchtigen Ausdruck auf, und Schuldgefühl durchzuckte sie. Ich habe ihn seit der Invasion nie wirklich besorgt gesehen.
»Wenn das zu bald für Euch ist oder Ihr das Gefühl habt, dass Eure Pflichten hier liegen, ist es noch nicht zu spät, Eure Meinung zu ändern«, sagte sie, wobei sie ihren Tonfall förmlich hielt, um zu vermeiden, dass sie so klang, als zöge sie seine Entschlossenheit in Zweifel oder deute an, dass sie seinen Gesinnungswechsel für feige halten könnte.
Er schüttelte den Kopf. »Es ist nicht zu bald. Tatsächlich ist der Zeitpunkt perfekt. Ich habe keine anderen Verpflichtungen als meine Arbeit, die darin besteht, für die Gilde und Kyralia von Nutzen zu sein. Es ist recht nett, tatsächlich einmal von Nutzen zu sein. Dies ist die Art von Aufgabe, für die wir Krieger ausgebildet werden, und doch bemühen wir uns die meiste Zeit darum, nicht benötigt zu werden.«
Sonea schaute weg und verspürte Mitgefühl bei dem leisen Anflug von Verbitterung in seiner Stimme. Keine anderen Verpflichtungen. Er hat wirklich alle Familienbande durchtrennt. Die Skrupellosigkeit seiner Rache an seiner Frau für ihre zahlreichen ehebrecherischen Affären hatte die Tratschtanten der Gilde wochenlang unterhalten. Er hatte seinen Töchtern, die beide mit respektablen und wohlhabenden Männern verheiratet waren, seine beiden Anwesen gegeben und um Räume in der Gilde gebeten. Auf diese Weise blieb seine Ehefrau ohne ein Dach über dem Kopf und ohne Geld zurück, so dass sie gezwungen war, bei ihrer Familie zu leben.
Den Gerüchten zufolge hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen, nachdem Regin ihren letzten Geliebten weggeschickt hatte. Ihr Geliebter dagegen hatte sich einfach eine andere wohlhabende Frau gesucht, die er verführen konnte. Trotz der Schande, wie beschädigte Ware ihrer Familie zurückgegeben worden zu sein, unternahm Vinina keine weiteren Selbstmordversuche. Sonea wusste nicht, ob sie Mitleid mit ihr haben sollte oder nicht. Manchmal fragte sie sich, ob die Ehe mit Regin die Frau zu solch extremem Verhalten getrieben hatte.
Vielleicht benimmt er sich in der Öffentlichkeit anständig, ist aber im Privatleben wieder das abscheuliche Balg, das er als Novize war.
Vielleicht würde sie es auf dieser Reise herausfinden. Nicht dass ihre gemeinsame Zeit als privat gelten konnte. Der Zweck der Reise war zu wichtig und wäre es auch dann gewesen, wenn Lorkin nicht gefangen gehalten würde.
»Ich kann Euch jetzt den Grund für die Reise nennen«, begann sie. Regin hob jäh den Kopf und sah sie an. »Morgen wird es allen mitgeteilt werden. Lorkin ist nach Arvice zurückgekehrt. Bevor er nach Kyralia aufbrechen konnte, ließ König Amakira ihn vorladen, und als Lorkin sich weigerte, Fragen über die Verräterinnen zu beantworten, hat er ihn eingekerkert.«
Regins Augen weiteten sich. »Oh, es tut mir leid, das zu hören, Sonea.« Er verzog mitfühlend das Gesicht. »Dann schicken sie Euch, um Verhandlungen über seine Freilassung zu führen? Ihr müsst darauf brennen aufzubrechen.« Er machte einen kleinen Schritt auf sie zu. »Ich werde alles tun, was ich kann, um zu helfen.«
Seine Miene war so ernst, dass die vertraute Angst, die jedes Mal kam, wenn sie an Lorkin dachte, zurückkehrte. Sie senkte den Blick und drängte das Gefühl beiseite.
»Ich danke Euch. Ich weiß, dass Ihr das tun werdet.«
»Wenn wir morgen aufbrechen … wir haben kaum mit dem Prozess begonnen, Eure Stärke zu vergrößern. Wollt Ihr, dass ich Euch jetzt Macht gebe?«
Etwas in ihr zog sich zusammen, und sie spürte, wie ihr Gesicht warm wurde. Sie sah ihn an und wandte dann den Blick ab.
»Nein«, antwortete sie schnell. »Morgen wird eine Versammlung stattfinden, und Osen wird um Freiwillige bitten. Wartet bis dahin.«
»Was wird Osen ihnen erzählen?«
»Nur das, was ich Euch gesagt habe.«
»Nur?« Regin stieß einen leisen Seufzer aus. »Seid vorsichtig, Sonea.«
Sie schaute zu ihm auf, dann begriff sie ihren Fehler. Sie hatte ihm verraten, dass mehr hinter der Reise steckte als Lorkins Gefangennahme. Dieses winzige Bröckchen Information könnte ihrer beider Leben gefährden, sollte ein sachakanischer Magier es in seinen Gedanken lesen.
Jetzt ist es zu spät. Ich muss in Zukunft vorsichtiger sein.
Aber die beängstigende Wahrheit war: Wenn Regin durch einen sachakanischen Magier zwangsweise einer Gedankenlesung unterzogen wurde, bestand durchaus die Möglichkeit, dass Sonea sein Schicksal teilen würde und dass man auch ihr gegenüber alle diplomatischen Bedenken fallen ließ. Obwohl Nakis Ring verhindern würde, dass ihre eigenen Gedanken gelesen wurden, wusste sie nicht, wie lange sie sich gegen jemanden behaupten konnte, der entschlossen war, ihr Informationen mit Hilfe von Folter zu entlocken.
Vor allem wenn sie Lorkin benutzten, um sie zu überreden.
Obwohl nichts geschehen war, was er nicht erwartet hatte, verspürte Dannyl trotzdem Zorn und Demütigung. Er hoffte, dass man es ihm nicht angemerkt hatte. Er hatte sich bemüht, während seines kurzen Besuchs im Palast gelassen und höflich zu bleiben, aber er konnte nicht erkennen, ob er erfolgreich war oder ob seine wahren Gefühle irgendwie offensichtlich waren – oder ob seine geheuchelte Gelassenheit sogar als Anzeichen dafür gewertet würde, dass man ihm erfolgreich zugesetzt hatte.
Ironischerweise machte seine frühere Entscheidung, die Suche nach Lorkin aufzugeben, die ihn den Respekt der Elite der Sachakaner gekostet hatte, es jetzt schwerer, den jungen Magier zu beschützen. Das selbstgefällige Grinsen der Ashaki, die damals Zeuge seiner Entscheidung gewesen waren, sprach eine deutliche Sprache.
Wenn ich die Suche hätte weitergehen lassen, wären ich und die Ashaki, die mir geholfen haben, wahrscheinlich von den Verräterinnen getötet worden. Lorkin hätte sich bei seiner Rückkehr ins Gildehaus auf niemandes Hilfe mehr stützen können.
Aber das war nicht ganz die Wahrheit. Die Gilde hätte einen Ersatzbotschafter geschickt. Einen, dessen Ruf nicht durch Feigheit besudelt war. Was für Lorkins Zwangslage vielleicht besser gewesen wäre.
Nein. Wenn die Verräterinnen gezwungen worden wären, einen Gildemagier zu töten, wäre Lorkin vermutlich überhaupt nicht ins Gildehaus zurückgekehrt. Man hätte ihm vielleicht nicht einmal Zutritt zum Sanktuarium gewährt, aus Furcht, dass er Rache für meinen Tod suchen würde.
Obwohl … die Vorstellung, dass jemand Rache für seinen Tod suchen könnte, fühlte sich für Dannyl unwahrscheinlich und lächerlich an.
Ein schwacher Rhythmus nackter Fersen auf dem Boden drang vom Eingang des Gildehauses an Dannyls Ohr. Er hielt in seinem Auf und Ab im Herrenzimmer inne und drehte sich in Richtung des Geräusches. Taff, der Türsklave, kam aus dem Flur und warf sich mit seinem wie immer übertrieben dramatischen Gehabe auf den Boden – eine Angewohnheit, die Tayend einige Wochen zuvor bei dem Mann aufgefallen war.
»Der elynische Botschafter ist zurückgekehrt«, stieß Taff hervor.
Dannyl nickte und bedeutete dem Sklaven mit einer Handbewegung, dass er aufstehen und tun solle, was immer Türsklaven taten, wenn sie nicht gerade Besucher ankündigten.
Das Geräusch einer Tür, die sich schloss, war zu hören, dann Schritte. Tayend lächelte flüchtig, als er aus dem Flur trat, und schüttelte dann den Kopf.
»Kein Glück«, sagte er.
Dannyl stieß den Atem aus, den er angehalten hatte. »Nun, danke, dass du es versucht hast.«