Bei seiner Rückkehr in ihre Zuflucht hatte Cery einer rastlos auf- und abgehenden Anyi erlaubt, ihre eigenen Erkundungsgänge fortzusetzen. Er blieb bei Gol, und sie sprachen darüber, was Cery gefunden hatte, und über die Vergangenheit, bis Gol schläfrig wurde. Es machte Cery nicht so viel aus wie erwartet, in der Stille dazusitzen, solange er seinem Verstand nicht erlaubte, sich auf unangenehme Erinnerungen zu konzentrieren. Es war ruhig und geruhsam, und ausnahmsweise einmal machte er sich keine Sorgen wegen Meuchelmördern, die sich an sie anschlichen.
Nun, ich bin nicht gänzlich unbesorgt, korrigierte er sich.
Als wollten sie seine zittrige Überzeugung von ihrer Sicherheit herausfordern, erklangen draußen auf dem Flur leise Schritte. Er erhob sich und spürte eine Woge der Erleichterung, als Anyi in der Tür erschien.
Sie grinste breit und bückte sich, um ihren fast leeren Wassereimer hochzuheben.
»Ich habe ein leckes Süßwasserrohr unter der Universität entdeckt«, berichtete sie ihm. »Es ist näher als das, von dem du wusstest, aber genauso langsam. Es wird eine Weile dauern, den hier zu füllen. Es wäre besser, wenn wir zwei Eimer hätten – einen, den wir dort lassen könnten, damit er sich füllt. Oder ich könnte versuchen, das Leck zu verschlimmern.«
Cery schüttelte den Kopf. »Sie könnten etwas bemerken und der Sache auf den Grund gehen. Lass uns sehen, ob Lilia uns einen zweiten Eimer beschaffen kann.«
Sie nickte, dann klemmte sie sich den Eimer unter den Arm und ging davon.
Er setzte sich wieder und spürte, dass seine Stimmung sich ein wenig aufhellte. Bisweilen bezweifelte er, dass sie überhaupt hier leben konnten, geschweige denn es bequem haben. Es gab so vieles, wozu sie keinen Zugang hatten. Sie verließen sich gänzlich auf Lilia, was ihre Ernährung betraf – aber glücklicherweise hatten sie wenigstens »eigenes« Wasser. Darüber hinaus besaßen sie nichts als einen Haufen alter Kissen, einige Kisten und den kalten Boden, auf dem sie schlafen und sitzen konnten. Es war aber nicht allzu kalt, und die Luft schien nicht schal zu werden.
Das Geräusch von Schritten drang erneut an sein Ohr, aber wer immer nahte, machte sich keine Mühe, leise zu sein. Der Besucher trug Stiefel oder irgendeine andere Art von kräftigem Schuh, bewegte sich jedoch leichtfüßig.
Lilia. Er lächelte in sich hinein. Ihr zu helfen hatte sich als sehr einträglich erwiesen. Er hätte ohnehin niemals zugelassen, dass sie sich allein in die Unterwelt der Stadt aufgemacht hätte, und dadurch, dass er sie nicht direkt der Gilde ausgeliefert hatte, hatte er eine sehr nützliche Verbündete gewonnen. Und Anyi mag sie sehr.
Eine helle, in der Luft schwebende Lichtkugel erreichte den Raum noch vor Lilia. Sie trug ein Bündel und eine große Glasflasche, und sie lächelte, als sie Cery sah. Aber als sie sich in dem Raum umblickte, geriet ihre fröhliche Miene ins Stocken.
»Anyi?«
»Sammelt ein wenig Wasser«, berichtete er ihr. »Sie hat ein leckes Rohr gefunden.«
»Kein Abflussrohr, hoffe ich.« Sie legte das Bündel vorsichtig auf eine umgekippte Kiste und begann es auszupacken.
»Sie sagt, es sei sauber«, erwiderte er. Er blinzelte überrascht, als er sah, wie viel zu essen sie mitgebracht hatte. Brot, eine lackierte Schachtel mit zwei Schichten, unten mit langsam gegartem Fleisch und oben mit gewürztem Gemüse gefüllt. Wenn die Diener den Magiern Mahlzeiten in ihre Quartiere brachten, benutzten sie immer praktische, fest verschlossene Behältnisse, die die Wärme hielten. Obwohl diese Schachtel nicht für drei Personen genügte, war es deutlich mehr, als eine einzige Person gebraucht hätte. »Das … ist dein Abendessen?«
»Und Soneas«, erklärte sie. »Lord Rothen hat sie zu einer letzten gemeinsamen Mahlzeit eingeladen, und es war zu spät, um Jonna Bescheid zu sagen.«
»Was riecht hier so köstlich?«, erklang eine andere Stimme.
Lilia grinste, als Anyi den Raum betrat. »Abendessen. Ich habe auch etwas Lampenöl und Kerzen mitgebracht.«
»Ooh!« Anyi zog sich eine Kiste näher heran und nahm sich ein Stück Brot. Irgendwie war Gol aufgewacht und hatte sich erhoben, ohne zu stöhnen, und er beugte sich über das Essen.
»Wird es den Dienern nicht auffallen, wenn du für zwei Personen isst?«, fragte Cery, während er sich bediente.
Lilia zuckte die Achseln. »Jonna versucht immer, mich dazu zu bewegen, mehr zu essen, und sie ist es gewohnt, dass Anyi vorbeikommt und alles isst, was sich in ihrer Reichweite befindet.«
»Hey!«, protestierte Anyi.
Lilia kicherte. »Es macht ihr nichts aus.«
»Was ist mit dir?«, fragte Gol, blickte zu Lilia auf und deutete auf das Essen.
»Ich habe heute Mittag eine Extraportion gegessen«, erwiderte das Mädchen. »Und etwas Brot und Obst eingesteckt, um es später zu essen.«
»Diese letzte Mahlzeit, die Sonea und Rothen sich gönnen …«
Lilias Miene wurde ernst. »Sie bricht morgen Nacht auf. Und es ist auch offiziell. Sie geht, weil Lord Lorkin nach Arvice zurückgekehrt und vom sachakanischen König eingekerkert worden ist, weil er sich weigerte, die Verräterinnen zu verraten.«
Cery wurde flau im Magen. Zu erfahren, dass das eigene Kind im Gefängnis war. Trotzdem, zumindest lebt er und ist nicht länger in einer geheimen Rebellenstadt gefangen. Das ist einen Schritt näher an zu Hause. Nach all den Jahren, in denen er den Frieden gewahrt hat, wird der sachakanische König das alles nicht gefährden, indem er einen Gildemagier tötet.
Er musste zugeben, dass er nicht genug über Sachaka wusste, um sich sicher zu sein.
»Ich bin froh, dass wir ihr nicht verraten haben, dass wir hier sind«, sagte er. »Sie braucht sich nicht auch noch um uns zu sorgen.«
Anyi nickte. »Es wird jetzt leichter für Lilia sein, uns zu helfen, da sie nicht mehr fürchten muss, dass Sonea es herausfindet.«
»Aber Sonea ist die Einzige, die uns verteidigen würde, sollte die Gilde uns hier unten entdecken«, wandte Gol kopfschüttelnd ein.
»Was ist mit Kallen?«, fragte Anyi mit Blick auf Lilia.
Lilia zuckte die Achseln. »Auf ihn würde ich mich nicht verlassen wollen.«
»Dann sollten wir besser sicherstellen, dass man uns nicht findet«, meinte Cery. »Hast du mit Kallen gesprochen? Hatte er irgendwelche Neuigkeiten?«
»Ja, ich habe mit ihm gesprochen, und nein, nichts Neues«, erwiderte Lilia. Sie seufzte. »Er scheint nicht geneigt zu sein, sich mir anzuvertrauen.«
»Du wirst ihn einfach auf deine Seite ziehen müssen«, sagte Anyi. Während Gol den letzten Rest Sauce aus dem Fleischteil des Essens schlürfte, wischte sich Cery die Hände am Rand des Tuches ab, in das das Essen eingewickelt gewesen war.
»In der Zwischenzeit«, sagte er zu Lilia, »musst du nach Gol sehen. Wenn seine Verletzungen gut verheilen, dann musst du mit mir zum Eingang zu den Tunneln der Gilde kommen. Keiner von uns wird wirklich sicher sein, bis wir einen Weg finden, diesen Eingang zu blockieren, damit kein Handlanger irgendeines Diebes durchkommen kann. Wenn das bedeutet, das Dach zum Einsturz zu bringen, dann ist es das, was wir tun müssen.« Er wandte sich an Anyi. »Dann will ich, dass du mir diese Fluchtwege zeigst. Vielleicht werden sie uns in die Nähe des Ortes bringen, wo Diener Dinge wegwerfen, die die Magier nicht länger benutzen.«
Beide Mädchen grinsten. »Ein kleiner Erkundungsausflug würde Spaß machen«, meinte Lilia.
»Musst du nicht irgendetwas lernen?«, fragte Cery.
Ihr Gesicht wurde lang. »Muss ich jemals nicht lernen?« Sie seufzte, dann sah sie Anyi tadelnd an. »Du willst den ganzen Spaß für dich allein haben.«
Anyi schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht sagen, bis ich hier unten ein schönes weiches Bett habe und regelmäßige, dampfend heiße Bäder.«
Lilias Augen weiteten sich in gespielter Entschuldigung. »Tatsächlich, jetzt, da du Bäder und Körpergeruch erwähnst …«
Obwohl sie es offensichtlich erwartete, schaffte sie es trotzdem nur mit knapper Not, Anyis Boxhieb auszuweichen. Kichernd schlüpfte sie außer Reichweite.